Im Elsass begibt sich Ministerpräsident Kretschmann in einen Spagat – zwischen Erinnerung an die Schrecken des Ersten Weltkriegs und der neuen Bedrohung durch Putin.
Es sind diese Bilder, die sich aus Geschichtsbüchern und Filmen in das kollektive Gedächtnis Deutschlands und Frankreichs eingebrannt haben: Schützengräben, Granatexplosionen, erbitterte Kämpfe Mann gegen Mann. Am Hartmannswillerkopf in den Südvogesen wurden die Schrecken des Ersten Weltkriegs offenbar. „Menschenfresserberg“ wird der Gipfel genannt. Tausende fanden an den Hängen in einem zermürbenden Stellungskrieg vor allem 1915 den Tod. Im Besucherzentrum beschreibt eine Tonaufnahme von Zeitzeugen, wie Deutsche und Franzosen den hart umkämpften Gipfel in den Südvogesen mit Seilbahnen, Artillerie und mit Flammenwerfern zu erobern versuchten: eine Materialschlacht – teils für wenige Meter Geländegewinn.
Kretschmanns letzte wichtige Auslandsreise
Es ist kein Zufall, dass die letzte wichtige Auslandsreise Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ausgerechnet hierher führt. Krieg und Verteidigung sind Themen, die seine letzte Amtszeit seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine begleiten. Der Erste Weltkrieg zeige, wohin Nationalismus und Hass führten, sagte er am französisch-deutschen Nationaldenkmal: „Zum Krieg, wie wir es jetzt wieder erleben müssen durch den imperialistischen Krieg Russlands in der Ukraine.“ Am Abend zuvor hatte er über Wladimir Putin gesagt: „Wir sehen an den Provokationen, die wir jetzt erlebt haben: Er hat nicht nur die Ukraine im Auge. Er will mehr.“ Für Kretschmann ist klar: Europa muss sich verteidigungsfähig machen.
Drei Tage lang reiste der Ministerpräsident diese Woche durch die Grenzregionen in Frankreich und der Schweiz. Dass es ausgerechnet Frankreich und die Schweiz sind, ist kein Zufall. Es waren immer die direkten Nachbarn, in denen er in 14 Jahren Regierungszeit eine besondere Bedeutung beimaß. Die deutsch-französische Freundschaft liegt Kretschmann besonders am Herzen. Gerade in den Grenzräumen müsse man zeigen, dass Europa einen Mehrwert hat.
Kretschmanns Familiengeschichte ist mit dem Ort verbunden
Am Hartmannswillerkopf hat der Ministerpräsident am Dienstag eine persönliche Geschichte dabei. Erst vor wenigen Jahren habe seine Familie herausgefunden, dass der Bruder der Großmutter seiner Frau an dem Berg gefallen ist. Später nimmt der Krieg der Frau auch noch den Ehemann, erzählt er. Der Erste Weltkrieg sei der industrialisierte Krieg „mit bis dahin unbekannten Gefallenenzahlen“.
Wenige Stunden später ein harter Schnitt vom Gedenken zur Gegenwart: Die Materialschlacht ist wieder Thema. „Das macht Russland wieder“, sagt Kretschmann mit Blick auf die Drohnenangriffe in der Ukraine an einem Pult im Institut franco-allemand de Saint-Louis (ISL). Das Institut wurde 1959 gegründet, finanziert wird es von den Verteidigungsministerien Deutschlands und Frankreichs – um Technologien für die Streitkräfte zu entwickeln. Die Forscher arbeiten an Fragen, die angesichts der Bilder aus der Ukraine hochaktuell sind. Wie lassen sich Drohnenschwärme abwehren? Welche Möglichkeiten gibt es, selbst Drohnen im Verbund zu steuern? Was sind günstige Alternativen, um Drohnen unschädlich zu machen? Die Delegation bekommt eine Hochgeschwindigkeitskanone zu sehen, die Geschosse mit 3000 Metern pro Sekunde abfeuert – schneller als ein Leopard-Panzer, heißt es.
Wie eng können Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten?
„Unsere Arbeit ist so aktuell wie nie“, sagt Bernd Fischer, Vizepräsident und Abteilungsleiter am ISL. Das Institut betreibt Grundlagenforschung, arbeitet eng mit anderen Forschungseinrichtungen und der Industrie zusammen. Auf französischer Seite sind das große Universitäten wie Straßburg, auf deutscher Seite Fraunhofer Institute in Baden-Württemberg und das Bildungszentrum der Bundeswehr. Zu den Industriepartnern gehören Diehl oder Airbus Defence.
Was auffällt: Universitäten aus dem Südwesten fehlen in der Aufzählung. Es gebe Berührungspunkte, die ausbaufähig seien, deutet Fischer an und äußert einen Wunsch: Warum nutze man das ISL nicht als Brückenkopf für deutsch-französische Projekte?
Langjähriger Austausch
Der Präsident der Universität Stuttgart, Peter Middendorf, stellt später klar: Es gebe durchaus einen langjährigen fachlichen Austausch zum Thema Hyperschallforschung mit dem ISL. Das lässt aufhorchen. Denn das ist das Fachgebiet, dass ein wichtiges Kernstück des von der Landesregierung anvisierten Innovationscampus für Sicherheit und Verteidigung werden soll.
Den Innovationscampus hatte Kretschmann im Juli angekündigt. Es soll das fünfte Netzwerk von Forschungseinrichtungen unter diesem Titel sein. Mehr als den Grundstein wird die jetzige Koalition nicht legen können. 6,4 Millionen Euro aus EU-Mitteln steht für die Anschubfinanzierung zur Verfügung. An der Uni Stuttgart soll damit ein Hyperschallkanal gebaut werden. Darin kann die Atmosphäre auf dem Mars simuliert, aber auch Antriebskonzepte für Großraketen getestet werden.
In Saint-Louis erklärt Wissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne), worum es geht bei der Idee. Für die Verteidigung relevante Forschung habe bislang häufig isoliert stattgefunden. Die Vernetzung untereinander sei begrenzt gewesen. Das will man ändern. Beteiligen sollen sich Hochschulen wie die Uni Stuttgart und das Karlsruher KIT, aber auch Fraunhofer Institute. Eine grenzüberschreitende Kooperation würde wohl gut ins Konzept passen.
Für feste Vereinbarungen, wie sie tags zuvor am Quantenforschungszentrum der Uni Straßburg mit dem Innovationscampus Quantum BW unterzeichnet wurde, ist es noch zu früh. Aber auch von Kretschmann wird klar formuliert: In der Verteidigungswirtschaft suche das Land europäische Partner, „die unsere Werte teilen und für sie einstehen.“ Oder wie er es fasst: „Das Schicksal von Europa heißt Kooperation.“
Kretschmanns letzte wichtige Auslandsreise
Wichtige Nachbarn
Ministerpräsident Winfried Kretschmann betont stets die Bedeutung von Frankreich und der Schweiz. In seiner Amtszeit war der 77-Jährige zehn Mal auf Dienstreise in der Schweiz und neun Mal in Frankreich. Es ist die voraussichtlich letzte wichtige Auslandsreise vor der Landtagswahl. Ob der Ministerpräsident danach noch Abschiedsbesuche im Ausland macht, steht noch nicht fest.
Quantenforschung
Am Montag besuchte Kirchenfan Kretschmann nicht nur das Straßburger Münster, sondern auch das Quantenforschungszentrum der Uni Straßburg. Dort wurde eine Zusammenarbeit zwischen mit dem vom Land initiierten Innovationscampus Quantum BW vereinbart.
Luft- und Raumfahrttechnik
Am Mittwoch besuchte die Delegation das Luft- und Raumfahrtzentrum in Zürich, wo Möglichkeiten zur Zusammenarbeit in Wissenschaft und Industrie ausgelotet wurden