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Stand: 01.10.2025 20:00 Uhr

Am Tag der Deutschen Einheit soll es so weit sein: Dann will Kanzler Merz in einer Rede das nachholen, was er bislang nicht hinbekommen hat: den Menschen Mut auf Veränderung machen. Er sollte Roman Herzog zum Vorbild nehmen.


Georg Schwarte

Jetzt soll es also rucken statt rumpeln. In der Koalition und im Land. Es ist die Ruckrede reloaded. Erinnert sich noch wer? Bundespräsident Roman Herzog und seine wunderbare Ruckrede. Die ist 28 Jahre alt, aber tatsächlich ist jeder Satz von damals aktueller denn je.

Bundeskanzler Friedrich Merz will es jetzt also auch rucken lassen. Ein bisschen jedenfalls. Nicht schon heute, sondern am kommenden Freitag. Am Tag der Deutschen Einheit. Da will Merz per Rede nachholen, was er auch heute hier nach der Klausur wieder nicht hinbekam.

Erklären, was ist. Vermitteln was muss. Sagen, dass niemand Angst, aber alle Mut haben sollten, sich und das Land zu verändern. Wer Gutes bewahren will und wie der Kanzler glaubt, er sei konservativ, der sollte mit Mut, Lust auf Veränderung vermitteln.

Merz als grauer Buchhalter

Beharren und miesmachen können andere – vor allem vom rechten Rand – sehr viel besser. Und der Schritt vom Ideologisieren bis zum Idiotisieren jeder winzigen Reform im Land ist klein. Schlechte Laune jedenfalls haben wir hier schon genug: in der Koalition, aber eben auch im ganzen Land. Das sagte SPD-Vizekanzler Lars Klingbeil und klang am Ende dieser zweitägigen Klausur mehr nach Kanzler als Merz selbst.

Der trug nach der Kabinettsklausur wie ein grauer Buchhalter vor, was sein Kabinett will, wollte, sollte, müsste und wohl auch bald machen werde. Bis hierhin und so weiter. „Wir schaffen das“, hatten wir schon mal. „Wir machen das jetzt zusammen“ noch nicht. „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“, hatte Herzog das damals genannt.

Der Staat ist kein Lieferservice

Der kam dann übrigens mit Verspätung. Der Agenda-Kanzler Gerhard Schröder hat ihn geliefert. Mit reichlich Mut, mit Fehlern, aber mit Überzeugung und vorneweg. Jetzt also Ruckrede die Zweite. Wir alle dürfen gespannt sein. Aber sollten uns trotzdem nicht zurücklehnen und gucken, ob „die da oben“ liefern.

Der Staat ist kein Lieferservice. Alle sind da gefragt. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat übrigens gerade die Veränderungsmüdigkeit im Land beklagt. Zu Recht. Erst Corona, dann Krieg, dann Wirtschaftsflaute. Dann „Ampel-Gehampel“ samt Neuwahlen.

Ruckeln der Kleinkrämer

Und genau deshalb gilt umso mehr, was dieser Roman Herzog den Deutschen damals zurief: Angst führt zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es, was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft werde unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Klingt nach den Deutschen im Jahr 2025. Hat er aber schon 1997 so formuliert.

Herzogs Rede von damals – heute würde sie wohl viral gehen. Ob Merz das jetzt hinkriegt? Es wäre schon gut fürs Land, wenn aus dem Ruckeln der Kleinkrämer endlich wieder ein Ruck für Deutschland würde. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Am Freitag hat Merz das Wort: Lass rucken Kanzler.    

Georg Schwarte, ARD Berlin, tagesschau, 01.10.2025 14:58 Uhr

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