Stand: 02.10.2025 05:00 Uhr
Er war ein Betrüger und Bigamist, sein Berliner Lokal ein beliebter Nazi-Treff: Nach Kriegsende floh Adolf Hitlers Halbbruder Alois nach Hamburg. Kontakte zu NS-Größen stritt er ab. Am Dammtor eröffnete er eine Lokal.
Anfang Oktober 1945 erhält das Polizeiamt Hamburg am Gänsemarkt einen Brief, der Aufsehen erregt haben dürfte. Der Verfasser heißt Alois Hitler junior und ist der Halbbruder von Adolf Hitler. Er hat einen etwas ungelenk formulierten, aber sehr dringenden Wunsch: „Mit diesem Schreiben bitte ich den Herrn Oberst und Kommandeur der Polizei Hamburg meinen Familiennamen Hitler in Hiller umändern zu wollen.“ Es erscheine ihm „unmöglich, meinen Familiennamen Hitler weiterzuführen, der Name erschwert mir, meinen Beruf weiter auszuüben und stellt eine Belastung im Umgang mit dritten Personen dar.“ Der zu diesem Zeitpunkt 63-jährige Halbbruder des Diktators beteuert, er habe der NSDAP „nicht angehört, ebenso keiner ihrer Gliederungen.“
Namensänderung in drei Wochen genehmigt
Die Hamburger Behörden glauben dem Mann mit der Nickelbrille und dem streng gescheitelten Haar. Nur drei Wochen später erkennen sie den Antrag als „begründet“ an und erfüllen den Wunsch, das „t“ im Nachnamen durch ein „l“ zu ersetzen. Für 50 Reichsmark wird Hitler zu Hiller, in sämtlichen Papieren – inklusive des Eintrags im österreichischen Taufregister. Als Alois Hiller lebt der Mann fortan mit seiner Gattin Hedwig, dem ebenfalls umbenannten Neffen und dessen Frau in einem Reihenhaus in Hamburg-Fuhlsbüttel. Als die örtliche Presse auf die Geschichte aufmerksam wird und die Polizei bittet, Kontakt zu Hitlers Halbbruder herzustellen, lehnt die Behörde ab. Der Mann sei „seelisch schwer erschüttert“ und solle „von neuen Aufregungen verschont“ werden.
„Aus heutiger Sicht scheint es absurd, wie wenig die Polizeibehörde damals realisiert hat, mit wem sie es da eigentlich zu tun hat – und dass sie dem Mann einfach glaubte, ohne seine Vorgeschichte zu prüfen“, sagt NS-Forscher Hans-Peter de Lorent dem NDR vor einigen Jahren. Der Hamburger ist am Rand seiner Recherchen zum Hamburger Bildungswesen im Nationalsozialismus im Staatsarchiv auf Akten zu Alois Hitler junior gestoßen. „Vorher wusste ich gar nicht, dass Adolf Hitler einen Halbbruder in Hamburg hatte.“
„Kleinkrimineller Halbbruder passte nicht zum Führer-Mythos“
Der Hamburger Hans-Peter de Lorent hat sich intensiv mit der Geschichte von Alois Hitler junior beschäftigt.
Im NS-Staat hatte sich der Diktator zum Führer des Deutschen Volkes stilisiert, begleitet von einem irren Personenkult. Um seine Familie machte der Mann stets ein Geheimnis – so auch um Halbbruder Alois, mit dem er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigte. Vor seinem Selbstmord am Kriegsende ließ Adolf Hitler sämtliche Familiendokumente verbrennen.
Erst die Arbeit zahlreicher Forscher hat im Lauf der Jahre die Verwandtschaftsbeziehungen des Diktators offengelegt. „Der kleinkriminelle Halbbruder und dessen unbeständiges Leben hätten kaum zum Mythos des gottgleichen Führers gepasst, den Adolf Hitler um sich inszenierte“, sagt de Lorent, der die Geschichte von Alois Hitler junior in Hamburg mittlerweile umfassend recherchiert hat.
Sohn aus zweiter Ehe des Vaters
Den leiblichen Sohn und späteren Nazi-Führer Adolf verwöhnte sie, Stiefkind Alois lehnte sie ab: Klara Hitler.
Für Alois Hitler junior ist die Hansestadt nur ein Aufenthaltsort unter vielen. Geboren wird er am 13. Januar 1882 in Wien als Sohn von Alois Hitler senior und dessen späterer zweiter Ehefrau Franziska Matzelsberger. 1883 kommt seine Schwester Angelika zur Welt, im Jahr darauf stirbt die Mutter. Vater Alois Hitler senior heiratet schon 1885 ein drittes Mal: Klara Pölzl, die spätere Mutter von Adolf Hitler, der 1889 geboren wird.
Alois junior lebt sieben Jahre an der Seite des Bruders, ihr Verhältnis gilt als angespannt. Adolf wird von seiner Mutter bevorzugt, Stiefsohn Alois abgelehnt. Der jähzornige Vater schlägt öfter mal zu. Mit 14 Jahren verlässt Alois das Elternhaus. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs und Diebstählen über Wasser, eine Kellnerlehre bricht er ab, so die Quellenlage.
Gefängnis und ein Kind in England
Nachdem er in Linz fünf Monate lang im Gefängnis gesessen hat, wandert er nach Dublin aus. Auch hier finanziert er sein Leben mit Betrügereien und flieht, als er erneut auffliegt, nach Liverpool. Dort heiratet er seine irische Geliebte und wird Vater eines Sohnes, William Patrick Hitler. Alois Hitler trinkt, verspielt Geld bei Pferderennen und verprügelt wohl regelmäßig Frau und Kind. 1915 verlässt er sie und versucht sein Glück in Hamburg, wo er Rasierklingen verkauft, Hühner züchtet und kellnert. Mit gefälschten Papieren heiratet er erneut und zeugt wieder einen Sohn, Heinrich.
Ein Bigamist macht Karriere im NS-Staat
Als 1924 bekannt wird, dass er auch in England Frau und Sohn hat, wird Alois Hitler junior wegen Bigamie angeklagt. Doch seine erste Frau verfolgt die Klage nicht weiter, mit sechs Monaten Haft auf Bewährung kommt er glimpflich davon. Er verlässt die Hansestadt, geht nach Berlin und verdingt sich als Kellner und Gelegenheitsarbeiter. Als sein Halbbruder Adolf 1933 an die Macht kommt, erweitern sich auch für Alois die beruflichen Optionen. Im gleichen Jahr kauft er einen Weinausschank in Berlin-Charlottenburg, 1937 übernimmt er von einem jüdischen Vorbesitzer ein Lokal am Wittenbergplatz. Zum notwendigen Startkapital sollen ihm NSDAP-Größen verholfen haben. Er nennt die Gaststätte „Alois“ und beginnt den ersten wirklich lukrativen Job seines Lebens: Gastronom im NS-Staat.
Am 30. Januar 1933 übernehmen in Deutschland die Nazis die Macht, Adolf Hitler wird Reichskanzler. In Hamburg kommt es zu Massendemonstrationen und Ausschreitungen.
Nach Kriegsende wird Alois Hitler junior in Hamburg behaupten, er habe das Lokal aus eigener Kraft aufgebaut. Weder habe er Kontakt zu seinem Halbbruder Adolf gehabt, noch sei er sonst mit Nationalsozialisten involviert gewesen. Heute ist anderes bekannt.
Edelweiß und Hitler-Bilder zum Geburtstag des „Führers“
Hitlers Halbbruder vor dem „Alois“. Das Berliner Lokal war ein Szenetreff für ranghohe Nazis.
„Das ‚Alois‘ war ein Szenetreff für ranghohe Nazis“, berichtet NS-Forscher de Lorent. Der als charmant geltende Besitzer, der nicht nur den Schnauzbart wie sein Bruder gestutzt trägt, sondern diesem auch sonst stark ähnlich sieht, bewirtet die SA- und SS-Leute in einem gesonderten Raum im ersten Stock. Zum Geburtstag des „Führers“ dekoriert Alois Hitler junior das Schaufenster mit Edelweiß und Hitler-Bildern, an Weihnachten schenkt er seinen Angestellten ebenfalls Bilder des Diktators.
Das Lokal ist eine Goldgrube. Auch wenn die Verwandtschaft zu Halbbruder Adolf nicht öffentlich gemacht wird, „hat er doch davon extrem profitiert“, erklärt Hans-Peter de Lorent. Wünsche des Gaststättenbesitzers wie eine Erhöhung des Tabakkontingents oder die Genehmigung eines Vordergartens werden – im Gegensatz zu Anträgen des Vorbesitzers – umgehend erfüllt. In einem Behördenschreiben beantragt Alois Hitler, zusätzliche Räume in dem Haus in Anspruch zu nehmen, die derzeit noch von Juden belegt seien. Es sei „damit zu rechnen, dass diese Juden in der nächsten Zeit ihre Wohnungen räumen müssen“.
Im SS-Lastwagen von Berlin nach Hamburg
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wird es in der Hauptstadt Berlin eng für Alois Hitler junior. Einige Wertsachen und Lebensmittel im Gepäck flieht er mit seiner Frau Hedwig in einem SS-Lastwagen nach Hamburg, wo ihn kaum jemand kennt. Als Alois Hiller füllt er 1947 den Entnazifizierungsbogen aus. Er verschweigt eine Mitgliedschaft in der NSDAP und wird zunächst in Kategorie V als „entlastet“ eingestuft.
Rührselige Geschichten in der Hamburger Presse
Doch als sich Zeugen aus seiner Berliner Zeit beim Entnazifizierungsausschuss melden und davon berichten, wie es im „Alois“ zugegangen ist, muss Hitlers Halbbruder reagieren. Er schaltet die Presse ein, die rührselige Artikel über ihn druckt, denen zufolge er „keine Beziehung“ zu Adolf Hitler gehabt hat und nicht an seinen Bruder erinnert werden will. „Herr Hiller hat einen blütenweißen Fragebogen und konnte glaubhaft nachweisen, daß er sich für Politik nie so stark interessiert hat wie für guten Kaffee und ein anständiges Bier“, schreibt die Zeitung „Wochenend“ im Oktober 1949. Dabei hatte ihn der Entnazifizierungsausschuss zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Zeugenberichte bereits wieder neu eingestuft – und zwar in Kategorie III als „Minderbelasteten“.
Gaststätte am Dammtor
Bei den Verhandlungen sagt Hiller, er leide an Gedächtnisschwund und habe daher einige Punkte im Fragebogen unabsichtlich falsch ausgefüllt. Nach einigem Hin und Her der Rechtsanwälte entscheidet der Entnazifizierungsausschluss schließlich im April 1950, Hiller wieder in die Kategorie „Unbelasteter“ zurückzustufen. Somit darf er wieder in der freien Wirtschaft tätig werden und eröffnet eine kleine Gaststätte in der Nähe des Dammtors, wie der Journalist Wolfgang Zdral in seinem Buch „Die Hitlers“ schreibt. Hiller habe in Hamburg unauffällig gelebt. Nur für Touristen, die wussten, wer sich hinter diesem neuen Namen verbirgt, habe er bisweilen Bilder seines Bruders Adolf mit dem Schriftzug „Hitler“ signiert.
Am 20. Mai 1956 stirbt Alois Hitler junior in Hamburg und wird auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt. Das Grab ist inzwischen eingeebnet.
* Die Urfassung dieses Beitrags ist bereits 2016 veröffentlicht worden. Die Autorin arbeitet inzwischen nicht mehr für den NDR.
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