Cover: Anselm Kiefer: Wasserfarben

AUDIO: Bildschöne Bücher: „Wasserfarben“ von Anselm Kiefer (5 Min)

Stand: 29.09.2025 16:09 Uhr

Anselm Kiefer gilt als einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart. Jetzt lernen wir eine neue, zartere Seite von ihm kennen. „Wasserfarben“ heißt der zur Ausstellung in Seebüll entstandene Katalog.

von Martina Kothe

„Ich könnte ohne die Kunst nicht leben, es wäre völlig unmöglich“, sagt Anselm Kiefer. Raumgreifend und meist riesig sind seine Arbeiten: Auf Leinwände gießt er heißes Blei, sieht zu, wie sich die Farbe abrollt und aufbäumt. Er stapelt Betonabgüsse von Containern zu unbewohnbaren Türmen, setzt seine Bilder der Witterung aus, lässt Schichten von Stroh, Lehm und Farbe frieren und schmelzen. Der Kampf mit dem und gegen das Material, am liebsten Blei, scheint ein wichtiger Teil des künstlerischen Prozesses bei Kiefer zu sein.

Anselm Kiefers Farbexperimente

Tuschkasten, Pinsel, Papier, transparente Farbschichten, überhaupt: Farben – all das ist in Bezug auf Kiefer neu und spannend, und man versucht diese Bilder mit dem restlichen Werk und dem Anspruch des Künstlers in Einklang zu bringen.

„Mit seinen Aquarellen stellt sich Anselm Kiefer in die Tradition der Kunstgeschichte und damit auch von Emil Nolde. Beiden Künstlern ist bewusst, dass sie ihren eigenen Einfluss aufgeben durch die Freiheiten, die sie der Farbe im Aquarell ermöglichen“, schreibt der Direktor des Emil-Nolde-Museums, Christian Ring, im Vorwort.

In seinen Aquarellarbeiten bleibt sich Anselm Kiefer aber in einem Aspekt treu: Er schreibt in die Bilder. „Über allen Gipfeln ist Ruh. In allen Wipfeln spürest Du kaum einen Hauch“, steht diagonal auf dem zum rechten Bildrand ansteigenden Hang, der sich grün und braun gefleckt von einem blassblauen Himmel abhebt. Ein halbkahler Baum ragt dunkel über Hang und Himmel und kreuzt die Steigung mit der Schrift. Es ist eines der älteren Aquarelle in dem Band, Anselm Kiefer hat es zwischen 1971 und ’73 gemalt.

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Schrift und Symbolik als erzählerische Elemente

Aus dem Jahr 1975 stammt das Bild „Kranke Kunst“. Auf beiges Papier getuscht, eine lila Bucht im Abendlicht. Rechts die dunklen Steine, der Strand, dahinter und am Horizont: blauviolette Berge unter wehenden weißen Wolken. „KRANKE KUNST“ steht ganz oben am Bildrand in ungelenken Druckbuchstaben. Die Szene ist bedeckt mit rosa-gelben Flecken, gleich Eiterpusteln, die pastos, rund und schwärend aufs Blatt gesetzt wurden. Das ist nicht ohne Witz, wird aber meist seriös als Rückverweis auf die „entartete Kunst“ der Nationalsozialisten gelesen. Ob es ein schneller, belangloser Einfall, ein banaler Witz war, oder einen tieferen Sinn hat?

„Mit meiner Schrift führe ich auch oft in die Irre. Ich will nicht, dass es so verstanden wird, wie ich es verstehe“, sagt Kiefer. „Ich werde oft gefragt, was meine Interpretation ist, dann sage ich immer: Ich bin nur einer unter vielen. Ich kann nur eine Interpretation geben, aber es gibt so viele Interpretationen, wie es Menschen gibt, die es anschauen.“

Zufall und Farbe im Einklang

Das Titelbild, „Aller Abende Tag“, entstand 2014 und zeigt eine weite, verschneite Landschaft – jene Landschaft, die man auch aus Emil Noldes Aquarellen kennt. Hier also treffen sich die beiden Künstler: in der Technik, teilweise im Motiv, vor allem aber im Unvorhersehbaren des Arbeitsprozesses.

Über einem weißen Feld mit Grasstoppeln, das sich in diagonalen Furchen bis zum Horizont erstreckt, türmen sich farbige Wolkenbänder: Sie sind lilafarben, orange, gelb, blau und türkis; in Bahnen liegen sie über dem Land. Sie werden durch verlaufende Wasserflecke aufgebrochen, verschwimmen, bilden neue, unkalkulierbare Formen. Der Zufall wurde eingeladen.

Das so schlicht wie schön gestaltete Buch offenbart eine neue Facette im Werk Anselm Kiefers. Und es macht Lust, den Tuschkasten selbst mal wieder herauszuholen.

Die Aquarelle Kiefers sind derzeit noch bis zum 15. November 2025 in der Galerie Bastian in Berlin zu sehen.

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Cover: Anselm Kiefer: Wasserfarben

Wasserfarben

von Anselm Kiefer

Seitenzahl:
80 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Schirmer/Mosel
ISBN:
978-3-8296-1037-7
Preis:
45 €