Manche sagen, die Bayern seien eines der letzten großen Rätsel der Menschheit. Zumindest steht fest, daß sie im ältesten Staat Europas leben. Auf diesem stolzen Fundament haben sie den Fährnissen der Geschichte von Napoleon bis Lafontaine getrotzt, wodurch in ihrem Herzen ein robustes Selbstverständnis erwachsen ist: „Extra Bavariam nulla vita, et si est, non est ita.“ Frei übersetzt: „Außerhalb von Bayern, da gibt’s kein Leben. Und wenn doch, dann gewiß kein so schönes.“ Oder wie es der alte Hufschmied in Lena Christs Erzählung „Rumplhanni“ sagt: „D’Welt muaß boarisch bleib’n, sinst is ja nimmer schee.“

Mittlerweile hat sich ein ganzes Jahrhundert über die beschauliche Welt des Hufschmieds gebreitet, und wo die Weltläufte sich einst auf das Dorfwirtshaus beschränkten, ist heute, in den Tagen der Globalisierung, die ganze Welt ein Dorf geworden. So besteht die Crux einfach darin, daß nun auch der bayerische Volksstamm schwere Verwerfungen erlebt, gegen die das Erdinger Land ebenso nicht gefeit ist. Die daraus resultierenden Irritationen sind dramatisch, weil der Erdinger Betrachter manchmal nicht mehr weiß, wo er hingehört, ja welchen Platz denn seine kleine, enge Heimat in dem globalen Weltdorf Europa beanspruchen wird. Soll sie vielleicht so werden wie Europa, oder soll Europa so werden wie sie?

Letztere Variante wäre gewiß im Sinne jener Staatsmacht, die fast schon zum Synonym für Bayern geworden ist: die CSU. Der europäische Aufbruch in Bayern ist untrennbar mit der CSU verknüpft, vor allem, weil diese die Antipoden Tradition und Fortschritt fest zusammengeschweißt und dies als moderne Variante listenreicher Staatsführung salonfähig gemacht hat.

Auf diese Weise hat die mächtige Partei auch das Erdinger Bauernland in weiten Teilen so sehr internationalisiert, daß die stille Heimat des schollengebundenen Landvolks fast unter die Räder gekommen ist. Ein stolzer Landstrich, das Erdinger Moos, ruht bereits sanft unter Betonmeeren. Und der auf ihm lastende Airport ist als heimatstiftendes Element nicht besonders gut geeignet: Leider ist er auch nicht bayerischer als andere Weltflughäfen.

Jubiläum

:Die SZ wird 80

Zeit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Was waren die größten Fehlprognosen in der SZ? Was denkt die älteste Leserin über ihre Zeitung? Und was haben Essiggurken und Demenzuhren mit der Redaktion zu tun? Hier finden Sie die Antworten.

Aber unser Landkreis ist ja mit mehreren Landschaften von europäischer Dimension gesegnet, doch auch diese hat man nicht immer pfleglich behandelt: Die Bahnstrecke von Dorfen nach Velden, eine der schönsten in ganz Deutschland, ist sang- und klanglos stillgelegt worden, der atemberaubende Blick von Landersdorf hinunter ins barock schimmernde Zeilhofen ist leichtsinnigerweise durch eine Hochspannungsleitung verschandelt worden, und schließlich soll eine Autobahn das unvergleichliche Isental vernichten.

Vieles also zerbröselt inmitten des fundamentalen Umschwungs aller Werte. Und doch existiert es noch, das alte Erdinger Bauernland, weit draußen an den Rändern des Landkreises, mit seinen Äckern und Wiesen, überschäumt vom maigrünen Frühling. Mit seinen Dörfern und fetten Äckern: ein unvergleichlicher europäischer Mikrokosmos. Dazu der Menschenschlag, der von unergründlichen Gegensätzen geprägt ist: Mit Benno Hubensteiner könnte man sagen, daß neben Jähzorn stets Bedächtigkeit steht, neben handfester Grobheit innere Weichheit. Wie der Oberländer schlechthin, mimt auch der Erdinger einen ungeheuren Respekt vor Staat und Obrigkeit und neigt doch wieder zur Aufsässigkeit und Eigenbrötelei. Gegensätze, an deren innerer Spannung europäischer Zentralismus wirkungslos abprallt.

Es ist dann tatsächlich so gekommen: Seit 2019 führt eine Autobahn durch das Isental.Es ist dann tatsächlich so gekommen: Seit 2019 führt eine Autobahn durch das Isental. (Foto: Lino Mirgeler/dpa)

Blicken wir deshalb auf unsere Herkunft: Schwingen in unserem Menschenschlag nicht uralte Blutströme mit, romanische vor allem? „Altbayern ist Antike“ hat Wolfgang Johannes Bekh einmal geschrieben und damit ausgedrückt, wie römisch das alte Bayern im Grunde gewesen ist, römisch bis in die Sprache hinein, bis in den Wallfahrtsbrauch. Wo aber ist das alles hingeschwunden, fragen sich nicht nur die Volkskundler. Ist das Landleben nicht ärmer geworden, ist die Globalisierung nicht der Todfeind bayerischer Identität?

Wir sehen, daß das Erdinger Land niemals autark von Europa gewesen ist. Ganz im Gegenteil: Zu unseren romanischen Wurzeln gesellen sich noch jede Menge Einflüsse aus dem Osten und natürlich keltische. Da sind auch noch jene stolzen Bauernhöfe, die wir Ithakerhöfe nennen, weil sie uns an jene großartigen Handwerker erinnern, die einst aus dem Süden über die Alpen gekommen sind und unsere Landschaft mit italienischer Baumeisterkunst geadelt haben.

Das Bairische ist bedroht

:„Jetzt schnabeln sogar de oidn Weiber auf Englisch!“

Die deutsche Sprache wird malträtiert wie selten zuvor – und das Bairische droht ganz zu verschwinden. Und das, obwohl Dialekt besonders viele Emotionen weckt. Über die Wege zu seiner Rettung gibt es  unterschiedliche Ansichten. Ein Essay zum Tag der Muttersprache.

Europäer waren auch jene Erdinger, die 1812 mit dem Napoleon nach Rußland gezogen sind und dort erbärmlich ihr Leben ließen. Überhaupt der Krieg: Noch vor wenigen Jahren konnte man in den Dörfern draußen alten Bauern zuhören, was sie unter Europa verstanden: „Jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit, jeder Schuß ein Ruß“, sangen sie sich da in strammen Liedern ihre traumatische Jugendzeit von der Seele, die zeitlebens ihr Bild von Europa geprägt hatte, weshalb sie außerhalb der Grenzen ihrer Heimat auch im Frieden vor allem Feindesland sahen.

Die Nachkriegsgeneration hat sich von diesem Zwang befreit und begegnet unseren Nachbarländern partnerschaftlich. Wenngleich viele Ausländer sich unsere Anerkennung auf gastronomischem Wege über den Bauch erkämpfen mußten. Nirgendwo ist mehr Europa als in unseren Wirtshäusern. Internationale Leckereien reichen aber nicht aus. Wie europäische Integration funktionieren könnte, spürt man herrlich in Taufkirchen, wo griechische Buben in breitestem Bayerisch daherpalavern, als wären sie die Retter des sterbenden bayerischen Dialekts.

Das heutige Fest der Internationalen Begegnung soll ein weiterer Mosaikstein sein, um Erding im besten Sinne mit Europa zu verbandeln. Dennoch braucht es Geduld. Die Europawahl wird kein Knüller, und das sollte für die Politiker ein Alarmsignal sein. Sie, die die europäische Einigung als höchstes politisches Gut preisen, haben in diesem Wahlkampf das Wichtigste versäumt: Sie haben der Erdinger Jugend nicht erklärt, was Europa für sie bedeutet.