„99 Menschen, die dein Leben besser machen“, hat Ulrike Gastmann ihre Lektionen fürs Leben untertitelt. Schön wär’s, wenn das so einfach wäre. Aber in der Regel lernt man nichts aus dem Leben anderer Leute. Nur aus seinem eigenen. Und genau darum geht es in den 99 kleinen Lebensbildern, die Ulrike Gastmann in diesem Buch versammelt hat. Manchen LZ-Lesern wird sie keine Unbekannte sein. Vor ein paar Jahren schrieb sie auch Kolumnen für diese Zeitung, bevor sie dann gleiches für die „Zeit“ tat. Aber was lernt man nun dabei?

Es ist kein Ratgeber-Buch geworden. Zum Glück. Sondern ein persönliches Buch, in dem Ulrike Gastmann die Schicksale von 99 zumeist recht berühmten Persönlichkeiten versammelt hat. Doch sie filtert nicht deren kluge Ratschläge fürs Leben heraus, sondern feilt die kurzen Biografien auf das zu, was man aus dem Leben anderer Menschen tatsächlich lernen kann: Wie man mit Schlappen, Niederlagen, Verlusten umgeht. Wie man wieder aufsteht und das eigene Leben im Nacken packt. Und wie man aus den eigenen Erfahrungen Rezepte für ein gelingendes Leben machen kann. Manchmal – eigentlich sogar meist – gegen viele Widerstände.

So wie sie gleich mit den frühen Jahren beginnt, die für die meisten Menschen schlichtweg Rätsel bleiben. Was hat man da eigentlich gelernt? Hat man da tatsächlich etwas gelernt fürs Leben? – Schwierige Frage. Erst recht, wenn man in verwirrenden Familienverhältnissen aufwuchs. Aber manch ein Kind ist da schon aufmerksam und nimmt Erkenntnisse mit fürs Leben.

Und schreibt später gar Kinderbücher, die dann Millionen Leserinnen und Leser begeistern. So wie Erich Kästner, mit dem Ulrike Gastmann den Reigen eröffnet. Mit der klaren Botschaft, die jeder bei Kästner finden kann: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben“.

Was Kindheit einem wirklich lehren kann

Und natürlich darf Astrid Lindgren nicht fehlen, die in ihrer Kindheit etwas gelernt hat, was die Leser auch in ihren Pippi-Geschichten wiederfinden können: „Wer stark ist, muss auch gut sein.“ Das nehme man einmal mit ins Erwachsenenleben.

Natürlich lernt man nicht nur von einzelnen Erkenntnissen aus der Kindheit. Dazu ist das Aufwachsen viel zu komplex und man begegnet zu vielen verschiedenen Menschen, von denen einem etliche überhaupt nicht guttun. Man braucht in der Regel lange, wirkliche Menschenkenntnis zu erwerben, auch wenn Kinder ein sehr gutes Sensorium dafür haben, wie andere Menschen ihnen begegnen. Nur ist da die leidige Erziehung, die viele, viele Erwachsene falsch verstehen.

Gerade jene Erwachsenen, die den Draht zu ihrer eigenen Kindheit verloren haben. Da wird erzogen, gezogen, abgeschnitten, verboten, gefordert, gestraft und verwaltet. Viele Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft kommen aus diesem verkorksten Verständnis vom Parieren und Funktionieren.

Glücklich die Kinder, die es anders erleben. Und Ermutigung erfahren. Oder früh lernen, sich gegen die stereotypen Erwartungen ihrer Eltern, die das aus ihrer eigenen fatalen Erziehung so mitgebracht haben, wehrten. So wie Harry Rowohlt, der am Familientisch lernte, dass man sich nicht alles gefallen lassen darf.

Erst recht, wenn die Eltern in ihrer verkorksten Ehe nur noch schweigen und die Gefühle des Knaben nicht thematisiert werden dürfen. Aus Harrys Lebensgeschichte filtert Ulrike Gastmann dann so einen Satz: „Wer sich nicht wehrt, wird verwaltet, wer sich nicht zeigt, wird zugeräumt – und kriegt ein Leben lang das Falsche aufs Brot geschmiert.“

Man merkt an solchen Sätzen, dass sie immer auch ihr eigenes Leben und unsere Gegenwart reflektiert. Man sieht regelrecht, wie sehr sie ihre Zeitgenossen meint, wenn sie so einfache Erkenntnisse aufblättert. Und sich selbst fragt: Warum lassen sich so viele Menschen gefallen, dass sie verwaltet und von andern gelebt werden? Und dann jammern und klagen und meinen, „die da oben“ müssten etwas machen, damit sie wieder irgendwie glücklich werden.

Aber schon mit der Formel „die da oben“ wird deutlich, wie sehr viele, viel zu viele Menschen es nie geschafft haben, aus der autoritären Prägung durch ihre Eltern, Lehrer und Vorgesetzten herauszukommen. Sich also immer noch wie Kinder verhalten, die in denen „da oben“ die mal strafenden, mal belohnenden Übereltern sehen. Ein Volk, das einfach nicht erwachsen werden will. Oder kann.

Stell dich dem Leben!

Aber werden diese Leute dann dieses Buch lesen? Gar mit dem Genuss, den man haben kann, wenn man in den Schicksalen berühmter Menschen sich selbst wiederfinden kann? Ähnliche Erfahrungen und Erkenntnisse. Oder gar das Quäntchen mehr Mut, sich selbst am Schopf zu packen und gegen alle Widerstände das eigene Leben zu formen. So wie die viel geliebte und viel zu früh gestorbene Regine Hildebrandt, die Ulrike Gastmann unter dem Titel „Lass dir nicht erzähln, dass et nich jeht!“ porträtiert, oder Ferdinand Schirach, dessen Lebensgeschichte ermutigt zu: „Stell dich dem Leben!“

Ein Schriftsteller als Vorbild? Natürlich. Gerade wenn er – wie von Schirach – das Leben der sogenannten „kleinen Leute“ schildert und zeigt, wie sie sich durchboxen und Würde zeigen. Im letzten Satz setzt Ulrike Gastmann noch einen drauf: „Stell dich dem Leben. Es lohnt sich.“

So findet man in den Erzählungen eines Anderen die Ermutigung, es eben auch mit dem eigenen Leben zu versuchen. Sich nicht von anderen einschüchtern und mutlos machen zu lassen. Sondern die einmalige Chance zu ergreifen. Denn wir haben alle nur dieses eine Leben. Mach was draus. Das kann man aus vielen dieser kleinen Porträts herauslesen.

Und manche der Porträtierten überraschen, weil man an sie gar nicht gedacht hat. Und dann stellt sich trotzdem heraus, dass ihre Haltung zum Leben einem etwas Wichtiges erzählt. Und um andere kommt man gar nicht herum.

Man hätte sie schlichtweg vermisst in diesem Buch, wenn sie nicht drin gewesen wären – so wie Roger Willemsen, den die Autorin mit einem dieser scheinbar so einfachen und zurückhaltenden Sätze zitiert, die gerade auf ihre stille Art eine Lebensweisheit enthalten. „Ich glaube, jedes Leben wird dadurch besser, dass man es auch für andere lebt.“

Suchen und finden

Vieles, was Ulrike Gastmann in ihrem Buch zusammengetragen hat, sind Lesefrüchte. Vielleicht sogar das Meiste aus jener Stillhaltezeit, als wir alle im Corona-Lockdown waren und sich die einen in Gejammer einsperrten und die anderen sich Berge von Büchern vornahmen, die sie immer schon einmal lesen wollten. Und wenn man Biografien liest, sucht man ja in der Regel nach dem, was einem am Porträtierten vertraut sein könnte, nah und beherzigenswert. Da kann einem selbst das Leben einer Meret Oppenheim nahe kommen, wenn da die Erkenntnis bestärkt wird: „Don’t cry, work!“

Was eigentlich auch ein Lebensmotto der in Thüringen aufgewachsenen Autorin sein könnte, die heute in Leipzig lebt und als ihr eigenes Motto angibt: „Schreiben ist der schönste Weg, bei sich und anderen anzukommen.“

Genau das tut sie ja mit diesem Buch: Indem sie die Lebensgeschichten der von ihr ausgewählten Berühmtheiten auf zwei Seiten eindampft und das für sie Berührende und Bereichernde darin zu fassen versucht, kommt sie den Porträtierten nahe. Und sich selbst. Schreiben auch als ein Weg zur Selbstvergewisserung. Man findet etwas, über das man im eigenen Leben auch schon einmal gestolpert ist. Und nun ist es dingfest, man kann es greifen und begreifen. Schreiben, um Dinge endlich beim Namen zu nennen.

Da lohnt es sich schon, nach 99 Menschen zu suchen, die ihre Lebensgeschichten oft gar nicht unter dem Aspekt erzählt haben, dass die Leser etwas fürs eigene Leben daraus lernen. Nur erzählen gute Biografen eben das Wesentliche eben doch – manchmal nebenbei, manchmal selbst gar nicht bemerkt. Aber der aufmerksamen Leserin springt es ins Auge.

Manchmal mit einer einzelnen Szene, manchmal mit einem beiläufigen Satz. Wie bei Hildegard Knef, noch so einer Person, die anderen einfach dadurch Mut machte, dass sie sich ins Rampenlicht stellte und so authentisch wie möglich agierte: „Das Leben schuldet uns nichts als das Leben.“

Trau dich was

Manchmal ist es, als umkreiste Ulrike Gastmanns Auswahl ein einziges Thema: Wie man im eigenen Leben den Mut und die Ausdauer gewinnt, aus allem, was einem mitgegeben wurde, etwas Ausfüllendes und Bereicherndes zu machen.

Und dabei vielleicht (das ist wirklich nicht die Bedingung) auch anderen das Gefühl zu geben, dass es sich lohnt, das Leben bei den Hörnern zu packen. So wie es dem Sänger Falco gelungen ist: „Man muss nicht sterben, um zu leben.“ Was natürlich im Text noch konkreter wird – als wollte sich die Autorin ein weiteres Mal ermutigen: „Genieße den Applaus, aber bau dir ein Leben, in dem du ihn nicht brauchst.“

Es sind oft Lebensgeschichten, die weit mehr als nur eine Ermutigung enthalten. Oft auch solche, bei denen man die Bewunderung der Autorin spürt, weil einer sich von früh an getraut hat, ganz er selbst zu sein – so wie der Karikaturist Manfred Deix, de sich auch von österreichischen Moralaposteln nie abhalten ließ, die Welt so deftig in Szene zu setzen, wie sie ohne rosarote Brille ja tatsächlich ist. Oder wie Jurek Becker und Manfred Krug, die eine lebenslange Freundschaft verband, in der beide einander stärkten – auch im Widerstehen gegen die Zumutungen einer vormundschaftlichen Staatsverwaltung.

Einerseits ist diese Sammlung eine unwahrscheinliche Fleißarbeit, andererseits auch ein Bekenntnis. Denn die Auswahl erzählt natürlich auch jede Menge über die Autorin, ihre Wahlverwandtschaften und ihr Bewundern für die Berühmten. Die einem auf einmal auf sehr menschliche Weise nahe sind. Auch das eine Kunst, die nicht jeder Biograf beherrscht: In dem Bewunderten auch das Vertraute sichtbar zu machen, das wir alle kennen. Auch die Berühmten sind nur Menschen. Und manche haben sich nicht nur die Kindheit bewahrt, sondern auch das Herz für ihre Mitwelt. Und manche wurden und werden genau dafür geliebt – man denke nur an Udo Jürgens.

Von wem lernen wir was?

Am Ende schlägt das Buch zwar noch vor, man möge eine eigene, hundertste Geschichte beifügen. Aber die Einladung führt in die Irre. Denn wir haben es mit der ganz besonderen Auswahl der Ulrike Gastmann zu tun. Die zwar viele werden teilen können, hocherfreut darüber, in diesen 99 Lebensgeschichten Ermunterungen und Bestätigungen fürs eigene Leben zu finden. Aber im Grunde müsste jeder selbst anfangen, seine 99 Lebens-Vorbilder zu erschreiben.

Denn so wie jedes Leben einzigartig ist, ist auch der Kanon unserer Erfahrungen unverwechselbar, spielen oft ganz andere Menschen darin die Rolle von Vorbildern. Und in gewisser Weise eben auch die von Lehrerinnen und Lehrern, weil sie uns in entscheidenden Momenten gezeigt haben, wie wir mit den Kalamitäten des Lebens umgehen können, was wir mit unseren Stärken anfangen können und wie wir mit unseren Schwächen zurechtkommen.

Aber diese 99 „Lessons for Life“ sind auf jeden Fall eine Einladung, sich dessen tatsächlich einmal bewusst zu werden und sich der Menschen zu vergewissern, die einem im Leben geholfen haben. Und sei es nur dadurch, dass sie vorlebten, wie es gehen kann. Denn Leben ist ein unerhörter Strauß aus Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Und manchmal braucht es nur einen Stups, damit man so ein Gefühl bekommt dafür, was möglich ist, wenn man sich nur endlich traut.

Ulrike Gastmann „Lessons for Life“ Kanon Verlag, Berlin 2025, 22 Euro.