Am Anfang war, nein, nicht das Wort. Am Anfang war das Kinderspielzeug. Jedenfalls in dem Stück „gen e sis“ von Kiki Miru Miroslava Svolikova. Es heißt „Die erste Liebe hält 5 Jahre“ und rahmt die diesjährige Eröffnungsinszenierung der Spielzeit 2025/2026 am Nürnberger Staatstheater. Insgesamt besteht es aus sieben Minidramen.
Die in Wien lebende Dramatikerin, Musikerin und bildende Künstlerin wirft in ihrer Version der Schöpfungsgeschichte einen desillusionierten Blick auf Gott und die Welt. Weil diesem allein so langweilig war, vertrieb er sich die Zeit mit Spielen und schuf das Universum samt Menschen. Dummerweise war er dabei aber so abgelenkt, dass „ihm eben einige Fehler“ unterliefen, wie uns eine Erzählerin nonchalant wissen lässt. Dann verlor er, wie das halt so ist, das Interesse an seinem Spielzeug und überließ es sich selbst.
In der Inszenierung von Jessica Samantha Starr Weisskirchen lümmelt zu Beginn der von Alban Mondschein gespielte Gott im hautfarbenen Strampler herum, ehe er sich eine Clownsnase aufsetzt und auf der Drehbühne, seinem Universum, Platz nimmt. Die Spielfläche des Abends besteht aus von Wanda Traub entworfenen grünen Kontinent-Hügeln, die nach und nach von den anderen Mitspielern in unterschiedlichen Rollen bevölkert werden: vom einsamen Kind über ein neunmalkluges Schwein bis zur empörten Barbie. Dazu ein T-Rex, ein Luftgewehr und märchenhaft glänzende Lackschuhe. Alles irrwitzig bunt, mitunter zum Schreien komisch, aber auch irrwitzig brutal.
Nürnberg blickt als Spielzeugstadt Nummer Eins auf eine mehr als 600-jährige Tradition zurück. Es liegt daher nahe, dass die gebürtige Nürnbergerin Lene Grösch als Nachfolgerin von Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger dieses jedem aus der eigenen Kindheit bestens vertraute Thema zum Einstand auf den Spielplan gesetzt hat. Dazu gab sie bei sieben Autoren und Autorinnen, darunter das Nürnberger Brüderpaar Ewald und Helwig Arenz, die Schweizerin Katja Brunner und der neue Intendant des Bamberger E.T.A. Hoffmann-Theaters, John von Düffel, Stücke in Auftrag.
Wie würdig das Theater einen im Sommer gestorbenen Kollegen ehrt
Weisskirchen hat diese mit viel Geschick zu einem tiefsinnigen Ganzen verwoben. Der Tenor bei aller Unterschiedlichkeit der Mikro-Dramen von traumatischer Kindheitserinnerung (Natasha A. Kelly, „Das Puppenhaus“) über feministischem Empowerment (Katja Brunner, „Barbarin Barbara“) bis zu sadomasochistischem Petplay (Helwig Arenz, „Ich bin Dein“): Irgendwas ist schief gelaufen. John von Düffels Stücktitel „MenschenversTand – durchgebrannt“ bringt es auf den Punkt, spielt er doch auf den „Nürnberger Tand“ an, eine alte Redewendung für das erste industriell hergestellte Spielzeug.
Unausgesprochen in der zweistündigen Inszenierung schwingt zudem die berühmte Schiller-Sentenz mit, dass der Mensch nur spielt, „wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist“, und er nur da ganz Mensch ist, „wo er spielt“. Schiller meinte das natürlich positiv, doch „Die erste Liebe hält 5 Jahre“ zeigt eindrucksvoll die Kehrseite.
Der Homo ludens, der spielende Mensch, war zu keiner Zeit ein unschuldiges Wesen. Seit jeher diente sein Spielzeug der Erziehung, zementierte es Rollenmuster, Herrschafts- und Machtverhältnisse. Das Luftgewehr für die Jungen, die Puppenküche für die Mädchen. Hier das blaue, dort das rosa Kinderzimmer. Beide Farben prägen das Bühnenbild und die Kostüme.
Es ist kein radikaler Schnitt, den Lene Grösch bei ihrem Amtsantritt vollzogen hat. Über die Hälfte der Darsteller ist geblieben. Bei den neuen Engagements wurde darauf geachtet, dass das Ensemble nun gleich viele Frauen und Männer aufweist. Und so begegnet man in der Eröffnung einem Publikumsliebling wie Amadeus Köhli ebenso wieder wie der gestandenen Staatschauspielerin Adeline Schebesch und der jungen, wandlungsfähigen Claudia Gyasi Nimako, die unter anderem die ironisch-bissige Erzählerin aus Svolikovas „gen e sis“ gibt.
Rosa wie die Welt von Barbie: Eine Szene der Uraufführung von „Die erste Liebe hält 5 Jahre“ am Staatstheater Nürnberg. (Foto: Konrad Fersterer)
Aber man freut sich auch über neue Gesichter wie Katharina Uhland. Nicht mehr dabei: Der im Sommer gestorbene Thomas Nunner. Das langjährige Ensemblemitglied hätte in Ewald Arenzʼ Szene „Junge auf der Fensterbank“ den Jungen spielen sollen. Ihm zum Gedenken bleibt sie ungespielt, ersetzt durch eine Schweigeminute bei abgedunkelter Bühne, ein bewegender Moment.
Die Ästhetik der Inszenierung erinnert noch an die Gloger-Jahre. Weisskirchen nutzt, wie einst Gloger, die gesamte sinnenbetörende Theatermaschinerie: Irisierende Lichtstimmungen, viel Theaternebel, und einmal schniebelt es vom Schnürboden. Auch Live-Musik und Gesang nehmen bei ihr breiten Raum ein.
So hört man zur Klavierbegleitung von Alex Röser Vatiché das „Abendlied“ von Matthias Claudius. Doch von Wohlklang keine Spur, wenn das siebenköpfige Ensemble „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen“ singt. Genauso schräg ein verstolperter „Tanz der kleinen Schwäne“. Eben Menschenverstand, durchgebrannt.