527 Seiten, dazu, wie es sich für einen Professor für Literaturkritik gehört, 59 Seiten quellenkritischer Anhang. Am Montag war er zu Gast in der Mediathek Müllheim.

Das Buch macht derzeit Furore, nicht nur, weil Lahme erstens einen lockeren, ja unterhaltsamen Schreibstil pflegt und zweitens die Homosexualität Thomas Manns in nie dagewesener Weise ins Zentrum seines Schaffens rückt, sondern auch, weil es eine ganz neue Sicht auf die Wissenschaft und ihren bisweilen verdrucksten Umgang mit dem Starautor und Nobelpreisträger öffnet. Bestätigung für Lahmes Ansatz brachte die Veröffentlichung der Tagebücher Thomas Manns 20 Jahre nach seinem Tod, wie er selbst explizit angeordnet hat.

Tilmann Lahme ist nicht nur Buchautor, sondern ein mitreißender Erzähler. So beschränkte sich die „Lesung“ auf einige wenige Originalquellen und Briefausschnitte, ansonsten war der Abend in der voll besetzten Mediathek eine spannende Erzählstunde, in der Lahme die Bedeutung der lebenslang unterdrückten Homosexualität Thomas Manns herausarbeitete. Der Ausnahmeschriftsteller führte tatsächlich ein Leben am physischen und psychischen Abgrund. Die Familiensaga mit schöner, kluger Frau und sechs hochbegabten Kindern: eine glatte Fassade, der die Wissenschaft nur zu gern jahrzehntelang folgte. Zum 100. Geburtstag habe Thomas Mann die Abschiebung in die Klassik-Ecke gedroht, nach dem Motto, das kann jetzt mal weg. Alfred Döblin habe den großen Kollegen mit seiner ausufernden Schilderung großbürgerlicher Befindlichkeiten als „leibhaftig

gewordene Bügelfalte“ geschmäht. Dann kamen die Tagebücher und auch zwei verschollen geglaubte Briefe an den Jugendfreund Otto Grautoff an die Öffentlichkeit. Inge Jens, Herausgeberin von Briefen und Tagebüchern Thomas Manns, habe in einer Diskussion um die vielen Streichungen und Lücken in diesen Quellen gemeint: Da könnte man was dazu sagen“. Und auch Tilmann Lahme hatte immer gespürt, dass in diesem Kontext des von vielen Händen bearbeiteten und zensierten Nachlasses „irgendwas nicht stimmt“. Als Wissenschaftler dürfe man da schon genauer hinschauen. Was er dann mit seinem Buch auch getan hat.

In seiner „Erzählstunde“ blätterte er die Jahre auf, in denen Thomas Mann als junger Schriftsteller Fuß fasste und im Alter von 25 Jahren den Erfolgsroman „Buddenbrooks“ vorlegte, der bis heute für viele Thomas-Mann-Fans das beste Buch seines umfangreichen Werks ist. Gebannt folgte das Publikum Lahmes Bericht, erfuhr, warum der Bleistift zum zentralen Dingsymbol im „Zauberberg“ geworden ist, warum man, wenn in Thomas Manns Erzählungen die Liebe anklopft, man auch gleich den Bestatter rufen könne, warum Thomas Mann „keine Frauen kann“, wie die Literaturkritikerin Iris Radisch feststellt und wie es kam, dass Thomas Mann in der schwerreichen Familie Pringsheim mit seinem Plan Fuß fassen konnte, die Tochter Katja zu heiraten. Die folgende, lebenslange Ehe mit ihrer äußerlich glänzenden Fassade ertrug er nur durch ständige Selbstkasteiung und einen umfangreichen Tablettencocktail. „Geht uns das was an?“, fragte Lahme und beantwortete die Frage selbst: Bei Thomas Mann bestehe ein klarer Bezug zwischen Leben und Werk. Dass Mann die Veröffentlichung seiner Tagebücher 20 Jahre nach seinem Tod verfügte, sei ein Indiz dafür, dass er wollte, dass die Nachwelt sein geheim gehaltenes schweres Leben sehen sollte. Das Publikum zeigte sich sehr informiert. Ein Zuhörer bekannte, er habe das Buch gar nicht kaufen wollen, es aber dann „in zehn Tagen gefressen“. „So ist mir Thomas Mann viel näher“, lautete eine andere Anmerkung. Für die Mediathek im Jahr ihres 25-jährigen Bestehens und die Lesegesellschaft als gemeinsame Veranstalter war der Abend eine besondere Sternstunde, in der wieder einmal klar wurde, dass Lesen nicht nur etwas fürs stille Kämmerlein ist, sondern auch den gesellschaftlichen Diskurs steuern und beleben kann.