Der Tag, an dem Mumpelmoff in Bo Starkers Leben geflattert kam, war einer der schwärzesten in ihrem Leben. Ihr damals fünfjähriger Sohn war am Spielplatz von anderen Kindern gehänselt und ausgegrenzt worden. Und dann hatte er ihr die Frage gestellt: „Mama, bin ich behindert?“ Dieses Wort sei zuvor zwischen ihnen nie gefallen, sagt Starker. Sie habe ihn immer beschützen wollen. „Ich konnte nicht antworten. Ich habe nur gezittert.“ Ihre Tochter, damals elf, habe versucht, sie zu trösten.

Auf der Heimfahrt blieb ihr Auto liegen. „Ich war alleinerziehend, hatte kein Geld und keine Kraft mehr“, sagt Starker. Als sie Stunden später weinend in ihrem Atelier saß, sei es passiert. „Aus meiner Lieblingsstrickjacke kam eine Motte geflogen. Erst wollte ich sie zerdrücken, aber sie hat so schön im Abendlicht geglitzert.“ Und da habe sie gewusst, dass sie ihrem Sohn, der mit Autismus und einer leichten halbseitigen Lähmung lebt, als Antwort auf seine Frage eine Geschichte schreiben würde. Die Geschichte einer Motte, die in einem verlassenen Schloss, dem Morl-Haus, wohnt und von einer großen Sehnsucht erfasst wird.

Sie griff zu Stift und Notizblock, schrieb die Nacht hindurch, und am nächsten Morgen war Mumpelmoff in der Welt. „Ein braunes Rundherum auf kurzen Beinen. Kleine Flügel hinten und ein pelziger Bauch vorn“, so steht es in Kapitel 1 ihres im Kosmos-Verlag erschienenen Erstlings.

Dass dieses Buch jetzt auf ihrem Tisch liegt, dass Rufus Beck das Hörbuch eingelesen hat und „Mumpelmoff“ auf dem Literaturfest Ruhr und der Frankfurter Buchmesse vorstellt, all das kann Starker nicht ganz glauben. „Das ist ein kleines Wunder“, sagt sie.

Das Morl-Haus gibt es nicht nur im Buch. Bo Starker hat es zusammen mit ihren Kindern auch gebaut und eingerichtet .Das Morl-Haus gibt es nicht nur im Buch. Bo Starker hat es zusammen mit ihren Kindern auch gebaut und eingerichtet . (Foto: Privat)

Fast sechs Jahre sind seit dem schwarzen Motten-Tag vergangen. Aus den Skizzen jener Nacht ist eine vergnügliche Geschichte voller Wortspielereien geworden, zu der man sich, wenn es „schlechtgewettert“, am besten einen „Sockentee“ kocht (als Motte) oder sich ein anderes „Getrinkdings“ an die Leselampe stellt. Denn das Abenteuer, das Mumpelmoff und sein Begleiter Kleinmeins, ein Luftballon, vor sich haben, erstreckt sich über 140 Seiten und ist in Illustrationen eingebettet, die das Morl-Haus in all seinen Winkeln ausleuchten.

„Weil ich das so flüstern höre, ich lieb das so!“

Nun ist Starker nicht nur eine Malerin, die sich auf fotorealistische Porträts versteht, sie ist vor allem eine fantastische Puppenhaus-Erbauerin. Auch das Morl-Haus hat sie zusammen mit ihren Kindern erschaffen. Drei Meter hoch und windschief lädt es zu wunderbaren Entdeckungen ein. Da gibt es Ohrenbackensessel und staubige Bücherregale, Wasserspeier und warm leuchtende Feuerstellen, einen Speiseaufzug und natürlich den kleinen Kaufmannsladen im Südturm-Stüberl, in dem Mumpelmoff schläft.

Jetzt noch ein Sockentee! Bo Starker hat ihren Kindern schon immer gern vorgelesen.Jetzt noch ein Sockentee! Bo Starker hat ihren Kindern schon immer gern vorgelesen. (Foto: Manfred Neubauer)Der alte Kaufmannsladen diente als Vorbild für Mumpelmoffs Zuhause.Der alte Kaufmannsladen diente als Vorbild für Mumpelmoffs Zuhause. (Foto: Manfred Neubauer)

Beim Einrichten sei sie noch einmal in die Welt ihrer Kindheit in Dresden geschlüpft, erzählt sie. „Mein Papa hat mit alten Sachen gehandelt, wir haben viel Zeit in verlassenen Häusern und auf staubigen Dachböden verbracht.“ Schon als kleines Mädchen habe sie ein Faible „für das ganze alte Gerassel“ gehabt, sagt sie. „Weil ich das so flüstern höre, ich lieb’ das so!“

Kein Wunder also, dass ihr Atelier – sie nennt es „Rums-Kabuff“ – eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Südturm-Stüberl aufweist, so wie sie es in ihrem Buch beschrieben und gemalt hat: „ein unaufgeräumtes, geheimnisvolles Reich voll staubiger Kisten, uralter Koffer, Krimskrams in Kartons und lauter merkwürdiger Sachen“. In einem Regal entdeckt man Mumpelmoffs Kaufmannsladen wieder, es ist ein Herzensstück aus ihrer Kindheit.

„Er war wertvoll, wir hätten das Geld gut gebrauchen können, aber ich wollte ihn unbedingt behalten. Und mein Papa hat ihn mir geschenkt.“ Von ihrem Vater habe sie alles gelernt, sagt sie, zeichnen, drechseln, Sachen finden. Auch nach seinem Tod spüre sie eine starke Verbindung zu ihm.

Bo Starkers Zuhause erinnert an die Puppenschlösser, die sie baut.Bo Starkers Zuhause erinnert an die Puppenschlösser, die sie baut. (Foto: Stephanie Schwaderer)Die Ahnengalerie taucht in abgewandelter Form auch in Mumpelmoffs Welt auf.Die Ahnengalerie taucht in abgewandelter Form auch in Mumpelmoffs Welt auf. (Foto: Manfred Neubauer)

Während sie erzählt, huscht sie barfuß durch ihr Zuhause, das auf fast schon magische Weise an ihre Puppenschlösser erinnert, zieht hier ein Fundstück, dort eine Zeichnung hervor, kocht Kaffee und schaut kurz nach den Igel-Babys, die sie in einer Holzkiste hochpäppelt. Der Hirsch an der Wand trägt einen Sonnenhut, der Rehbock daneben Zylinder.

Und Rufus Beck? Der habe durch Zufall eines Tages in der Tür gestanden, sagt sie. Ein Kunde, der ein Porträt abholte, habe ihn mitgebracht. „Er hat das Manuskript liegen sehen und mochte es. Und hat gesagt: Wenn es verlegt wird, mache ich das Hörbuch. Unglaublich, oder?“

„Ich sah aus wie eine Mumie. Aber das hat ihn überhaupt nicht gestört.“

Nach ein bisschen Feenstaub klingt auch die Geschichte, wie sie viele Monate später ihren Verleger kennenlernte. Ein Freund hatte diesem ihre Bilder gezeigt, sie spontan per Videocall angerufen und dann einfach das Smartphone weitergereicht. „Dabei lag ich schon im Bett!“, sagt Starker. „Im Karo-Schlafanzug und mit einer Schwefelpuder-Maske im Gesicht. Ich sah aus wie eine Mumie. Aber das hat ihn überhaupt nicht gestört.“

Mumpelmoff erkennt am Ende seiner Abenteuerreise, dass er sich nicht verstellen muss, um Freunde zu finden. Dass er, im Gegenteil, genauso sein darf, wie er ist. „Mein Sohn hat die Botschaft verstanden“, sagt Starker. Er gehe gern auf die Förderschule. „Und er ist das glücklichste Kind, das ich kenne.“

„Mumpelmoff und das Wunder im Schloss“ ist im Kosmos-Verlag erschienen, eignet sich für Kinder ab fünf Jahren und kostet 20 Euro.