London/Manchester. Spärlich besuchte Hallen, halb leere Züge, billige Hotelzimmer: Der britische Tory-Parteitag startete am Sonntag mit spürbarer Flaute in der nordenglischen Metropole Manchester. In den weiten Gängen des Konferenzzentrums war weniger los als im Vorjahr; Gedränge gab es indes bei Veranstaltungen mit den Tory-Abgeordneten James Cleverly und Robert Jenrick – Politiker, die in der Vergangenheit ebenfalls Ambitionen auf die Führung gezeigt hatten.
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Wollten viele jetzt schon sehen, wer Kemi Badenoch, die seit November 2024 Chefin der Konservativen und Oppositionsführerin ist, womöglich in nicht allzu ferner Zukunft ablösen könnte? Fest steht: Die Partei, die Großbritanniens Politik seit dem 19. Jahrhundert entscheidend prägt, ringt mit sich selbst und kämpft um ihre Existenz. Auch mehr als ein Jahr nach der nationalen Wahl, bei der Labour gewann und die Tories nach 14 Jahren im Amt eine vernichtende Niederlage erlitten hatten, ist das Vertrauen in die konservative Partei bei den Briten noch nicht zurückgekommen. Mit illegalen Feiern in der Downing Street während der Corona-Lockdowns, internen Machtkämpfen und gebrochenen Versprechen haben sich viele Wähler von den Tories nachhaltig entfremdet.
Nigel Farages Rechtspopulisten liegen bei 30 Prozent
Davon profitiert Nigel Farage: Der einstige Brexit-Treiber versammelt aktuell Umfragen zufolge doppelt so viele potenzielle Wähler hinter Reform UK. Seine rechtspopulistische Partei liegt aktuell bei rund 30, die Tories nur bei um die 16 Prozent.
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Der Wahlforscher John Curtice zeichnete in Manchester im Rahmen des Parteitages das Lagebild dazu: Die von Ex-Premier Boris Johnson im Jahr 2019 zusammengeführte Wählerkoalition der Tories – getragen vom Versprechen, den EU-Austritt rasch und endgültig abzuschließen – sei zerfallen. Reform UK habe den größten Teil davon abgegriffen, inklusive vieler Konservativer. Besonders brisant: Die Tories sind unter Wählern, die einst für einen Austritt aus der EU gestimmt hatten, inzwischen nicht beliebter als unter jenen Briten, die sich dagegen aussprachen. Der Brexit-Vorteil ist endgültig verpufft.
„Wir bestimmen, wer hierherkommt, und können diejenigen abschieben, die kein Aufenthaltsrecht haben“
Kemi Badenoch, Tory-Parteichefin
Das Rezept der Tories: Härte
Kemi Badenoch trat vor diesem Hintergrund in Manchester die Flucht nach vorn an. Ihr Rezept: Härte. Unter ihrer Regierung könne eine ICE-ähnliche Abschiebe-Einheit nach US-Vorbild zum Einsatz kommen – mit bis zu 150.000 Deportationen jährlich, so die 45-Jährige. „Wir bestimmen, wer hierherkommt, und können diejenigen abschieben, die kein Aufenthaltsrecht haben“, sagte sie in ihrer Eröffnungsrede am Sonntag. Und auch in Bezug auf extremistische Demonstrationen verschärfte sie den Ton deutlich: Die Straßen dürften „keine Theater der Einschüchterung“ sein, die Polizei solle entschiedener eingreifen.
Strategisch wollen die Tories mit dem Rechtsruck Reform UK die Deutungshoheit beim Migrationsthema streitig machen. Kritiker zweifeln jedoch an der Umsetzbarkeit, warnen vor langwierigen Verfahren statt schnellen Abschiebungen und werten den Kurs als bloße Symbolpolitik. Der Preis dafür könne hoch sein. Der frühere Tory-Abgeordnete Dominic Grieve sagte, die Annäherung an Reform UK gleiche einem politischen Selbstzerstörungsprogramm. Das Problem laut Experten: Wer nach rechts rückt, treibt moderate Konservative zur Labour-Partei, den Liberaldemokraten oder in die Stimmenthaltung. Zugleich verschwimme das Profil der Tories gegenüber Reform UK immer weiter. Curtice riet den Konservativen in Manchester deshalb davon ab, den Rechtspopulisten auf dem Feld der Migration hinterherzujagen: Statt „Reform UK zu übertrumpfen“ sollten sie ihre Energie auf die Ankurbelung der Wirtschaft und den maroden Zustand des nationalen Gesundheitsdienstes NHS richten, sagte er. Denn in diesen Bereichen schreibe die Bevölkerung den Tories immerhin noch ein gewisses Maß an Expertise zu.
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Badenoch selbst räumte kürzlich ein, ihre Partei habe „einen Berg zu erklimmen“, sei jedoch „bereit für den Kampf“. Doch selbst konservative, den Tories sonst zugeneigte britische Medien wie der „Telegraph“ mahnen: Die Parteichefin benötige einen Befreiungsschlag, um die drohende Irrelevanz abzuwenden. Laut YouGov bescheinigen ihr nur 20 Prozent der Gesamtbevölkerung eine gute Arbeit. Dennoch ist die Hürde für einen Führungswechsel vor den Lokalwahlen im Mai 2026 recht hoch: Nach Jahren interner Machtspiele und ständig wechselnder Besetzungen gelte die Partei vielen ohnehin als „Sack voller Ratten“, sagte ein konservativer Abgeordneter hinter vorgehaltener Hand. In Manchester mahnte Curtice jedenfalls zur Demut: Bevor man an die Rückkehr in die Regierung denke, müsse die Partei zuerst „ins Basislager“ gelangen. Den Weg verglich er mit der Besteigung des Himalajas.