Pro-Kommentar zu 35 Jahre Deutsche Einheit
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Ost und West bleibt auch für neue Generationen ein Thema
Fr 03.10.25 | 13:57 Uhr | Von Johannes Nichelmann
dpa/Gambarini
Audio: rbb24 Inforadio | 02.10.2025 | Johannes Nichelmann | Bild: dpa/Gambarini
Die Deutsche Einheit jährt sich 2025 zum 35. Mal. Über den Feiertag freuen sich viele. Aber sollten wir weiter auf Unterschiede zwischen Ost und West schauen? Johannes Nichelmann sagt: Ja, unbedingt.
Im vergangenen Jahr habe ich mich mit Jugendlichen in Bernau unterhalten, die sich an ihrer Simson Schwalbe, dem typischen DDR-Moped, festgehalten und fast schon sehnsüchtig von der guten alten DDR erzählt haben.
Da gab es keine Arbeitslosigkeit, sagte der eine, da herrschte noch Recht und Ordnung. „Da ging es Mutti und Vati noch richtig gut“, sagte der andere. Alle nickten. Keine Sorgen, keine Nöte. Einfach nur schön.
Es wirkte wie der Versuch einer Abgrenzung zur komplizierten und bedrohlichen Welt heute. Die Schwalbe, ein Geschenk des Urgroßvaters, als eine Art Zeitmaschine.
Zur Person
Ullstein Verlag/Niklas Vogt
Johannes Nichelmann wurde 1989 in Ostberlin geboren. Er arbeitet als freier Moderator und Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, u.a. rbb und Deutschlandfunk.
2019 veröffentlichte er das Buch „Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“, in dem er schildert, wie auch Nachwendekinder noch durch die DDR geprägt sind.
Identifikation mit ostdeutscher Vergangenheit
Diese Jungs waren gerade einmal volljährig. Sie sind Mitte der Nullerjahre geboren. Und trotzdem identifizieren sie sich mit einer ostdeutschen Vergangenheit, die sich aus Erzählungen geformt haben muss. Erzählungen aus ihren Familien und dem Freundeskreis. Auch als Gegenentwurf zu dem, was in den Medien und von der Politik über den Osten lange zu hören war: abgehängt und nicht in der Bundesrepublik angekommen.
Was sie nämlich nicht gehört haben, ist Anerkennung für die Lebensleistungen ihrer Eltern und Großeltern. Auch nicht für die enorme Anpassungsfähigkeit, die die meisten Ostdeutschen in der Nachwendezeit bewiesen haben.
Ostdeutsche Realitäten sind lange kaum im Diskurs vorgekommen und wenn, dann waren sie vor allem problematisch. Alle rechtsextrem, arm und dann sprechen sie allesamt auch noch sächsisch.
Es sind bis heute die kleinen Nadelstiche, die viele Menschen einfach spüren. Im Juli 2025 sprach die Bundesministerin Dorothee Bär (CSU), zuständig für Raumfahrt, im Bundestag vom ersten Deutschen im All: Ulf Merbold im Jahr 1983. Was sie sicher bewusst ausgelassen hat: DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn flog bereits fünf Jahre vorher in den Weltraum. Das hat die CSU-Politikerin aberkannt.
Auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist wahrzunehmen: Wir sind noch immer Ossi und Wessi. Natürlich gibt es die Gefahr, Menschen auf Ost/West zu reduzieren, aber bis heute sind die Unterschiede bei den Löhnen und Gehältern, den Renten und der Machtverteilung nicht zu übersehen. Das zeigen auch die Wahlergebnisse.
Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es hierbei nicht nur um individuelle Schicksale von Menschen geht, sondern um Strukturen.
Johannes Nichelmann, Autor und Nachwendekind
Gefährlich ist es, den Einfluss einer Gesellschaftsordnung kleinzureden, die 40 Jahre lang das Denken und Handeln geprägt hat – und deren Generationen zum Teil bis heute mitten im Leben stehen. Und: Zu denken, dass nicht auch die Nachgeborenen von den Auswirkungen der DDR und der Nachwendezeit beeinflusst sind, zeugt von Desinteresse.
Hinzu kommt: Ostdeutsch-sein ist kein statischer, seit 1990 eingefrorener, ewiggestriger Zustand. Es kommen für alle immer wieder neue Erfahrungen hinzu, die mit denen aus der jüngeren und älteren Vergangenheit abgeglichen und vermischt werden. Erfahrungen, die nun mal anders sind, als die vieler Westdeutscher.
Gemeinsamkeiten nicht ausschließen
Die Forderung, man soll aufhören, die Unterschiede zu benennen, ist ungefähr so sinnvoll, wie vor der „Tagesschau“ die Augen zu schließen und sich die unliebsamen Nachrichten einfach weg zu wünschen. Schlimmer noch, es ist die Aufforderung an alle Leute im Osten: „Vergesst, wo Ihr hergekommen seid, was Euch und Eure Familien geprägt hat.“
Es ist naiv zu glauben: gleiches Land, gleiche Probleme, gleiche Problemlösungen – ganz egal, ob aus Brandenburg oder Niedersachsen. Die Erfahrungen sind einfach anders.
Aber ist das nicht auch gut, wenn sich eine Gesellschaft bewusst macht, dass sie über verschiedene Perspektiven verfügt? Wir können davon profitieren, wenn wir uns bewusst machen, dass es ost- und westdeutsche Erfahrungen, Haltungen und Lebensweisen gibt. Das schließt die vielen Gemeinsamkeiten, die ja auch vorhanden sind, natürlich nicht aus.
Es bedeutet aber, dass alle gesehen werden. Und dann ist auch die Chance geringer, dass sich Jugendliche, wie die Jungs, die ich in Bernau getroffen habe, gedanklich in einer Art Fantasie-DDR einrichten, in der immer Sommer ist und die Simson Schwalbe über die Landstraßen summt.
Zur Gegenrede, einem Contra-Kommentar von Doris Anselm, gelangen Sie hier.
Hinweise
„35 Jahre Deutsche Einheit – wen juckt’s?“: Das fragen auch ARD-Reporterinnen und Reporter des Formats „Bundesvibe“. Sie sind mit jungen Menschen an verschiedenen Orten in Deutschland ins Gespräch gekommen. Das Ergebnis ist in der ARD Mediathek zu sehen.
Außerdem können Sie mitdiskutieren – am Freitagabend um 20:15 Uhr auf dem ARD-Twitch-Kanal in Kooperation mit Bundesvibe, „Politik & wir“ (rbb) und „Mixtalk“ (SWR): Auch 35 Jahre nach der Deutschen Einheit bleibt die Frage, ob sich Menschen weiterhin als westdeutsch oder ostdeutsch empfinden. Inwiefern beeinflusst die Herkunft die individuellen Chancen im Leben? Und ist Rechtsextremismus – wie häufig dargestellt – vor allem ein Problem im Osten? Moderiert wird die Sendung von Florian Prokop, geboren in Brandenburg, und Katharina Röben, geboren in Niedersachsen.
rbb|24 überträgt den Twitch-Talk ab 20:15 Uhr im Livestream.
Livestream | Twitch-Talk ab 20:15 Uhr –
35 Jahre Deutsche Einheit – wen juckt’s?
Viele freuen sich, am Tag der Deutschen Einheit frei zu haben – aber wie wichtig ist das Thema Ost und West heute noch? Darüber diskutieren Katharina Röben (SWR) und Florian Prokop (rbb) mit Politiker:innen und Expert:innen beim Twitch-Talk.
rbb|24 streamt live ab 20:15 Uhr
Sendung: rbb24 Inforadio, 02.10.2025, 07:05 Uhr
Beitrag von Johannes Nichelmann