Wie ein eckiger Tunnel ziehen sich schwarze Netze über die Kulykastraße, eine Allee im Herzen von Cherson. Blickt Galina nach oben, verschwinden die Schnüre im Gegenlicht der Sonne. Ihr präsentiert sich ein Bild bizarrer Schönheit. Die Blätter des Herbstlaubes verfangen sich im Netz, sie wirken wie im Flug eingefroren. Doch der 61-Jährigen ist nicht danach, über die Ästhetik von Laub im Zusammenspiel mit Netzen nachzudenken. Schließlich haben diese eine überlebenswichtige Aufgabe: Sie sollen vor Angriffen von Kamikaze-Drohnen schützen.

Die Lehrerin macht sich Sorgen, wie es weitergeht in ihrer Stadt im Osten der Ukraine mit all den russischen Drohnenangriffen und dem Artillerie-Beschuss. Vor ein paar Tagen erst hat Putin das halbe Land damit überziehen lassen, mindestens fünf Menschen starben. In Cherson sind die schützenden Netze im Bereich des Bahnhofs gespannt. Und sie ziehen sich kilometerweit längs der Schnellstraße, die Cherson mit Mykolajiw verbindet. „Straße des Todes“ wird sie mittlerweile genannt, weil es dort schon zahlreiche Drohnenangriffe auf zivile Autos und ihre Insassen gab. Manchmal rasen Kranken-, Militär- und Polizeiwagen über die Fahrbahn mit Antennen auf dem Dach. Störsender, die die Radiowellen der Drohnensteuerung stören sollen.

Für Putin sind militärische Drohnen das Mittel der Wahl in Sachen moderne Kriegsführung

Drohnen also. Jene unbemannten Luftfahrzeuge, die die Menschen in Deutschland einst als kleine Helferlein für private Foto- oder Filmaufnahmen aus der Luft kennengelernt haben und die heute, weitaus größer und zum Teil technisch hochgerüstet, Politik und Sicherheitsbehörden als mysteriöse Bedrohung einstufen, seit sie des nächstens erst über dänischen Flughäfen gesichtet wurden und nun auch zweimal den Betrieb am Münchner Airport kurzzeitig lahmgelegt haben. Der russische Angriff auf die Ukraine wiederum zeigt, wie Präsident Wladimir Putin inzwischen bewaffnete Drohnen als Mittel der Wahl in Sachen moderne Kriegsführung sieht, um ein ganzes Land mit an dieser Stelle wenig Personaleinsatz und trotzdem tödlicher Wirkung zu terrorisieren.

In Cherson scheint sich die Situation verbessert zu haben, seit die Netze hängen. Dennoch werden Autofahrerinnen und -fahrer angehalten, nach Möglichkeit mindestens mit 140 Stundenkilometern zu rasen. Dann sind die Fahrzeuge schneller als die russischen Drohnen. Vollgas geben scheint kein Problem zu sein für alle mit ausreichend Pferdestärken unter der Motorhaube. Auf den Verkehr muss man eh kaum achten, die Straße wirkt wie ausgestorben. In voller Fahrt huscht am Fahrbahnrand ein ausgebrannter Kleinwagen vorbei, schwarze Stellen auf dem Asphalt erinnern an die Hitze, als dort andere Autos in Flammen aufgingen. Dann die verbogenen Leitplanken. Am Stadtrand steht noch ein abgefackelter Lkw-Anhänger, ein Drohnen-Einschlag ließ ihn Feuer fangen. Schließlich kommt der große Checkpoint, der ebenfalls mit Netzen eingehaust ist.

„Wir haben für unsere Sicherheit einiges lernen müssen“, sagt Galina einige Kilometer entfernt bei ihrem Spaziergang durch die Innenstadt. Dann deutet sie auf die geparkten Autos. Allesamt unter Bäumen abgestellt, eines sogar unter einem Tarnnetz in einem kleinen Park zwischen zwei Wohnblocks. „Das Auto immer so abstellen, dass es von einem russischen Drohnen-Piloten aus der Vogelperspektive nicht entdeckt werden kann“, erklärt sie. In der Nachbarschaft schlug schon eine Drohne in ein fahrendes Auto ein, erzählt sie.

Die Einwohner vermeiden wegen der Drohnengefahr jede unnötige Fahrt mit dem Auto

Stellplätze unter Bäumen lassen sich in einer ausgebluteten Stadt leicht finden. Das Gros der Bewohner hat Cherson verlassen. Es gibt nur noch wenig Verkehr. Laut offiziellen Statistiken leben heute allenfalls noch 50.000 Menschen in der Kommune, die vor der großen Invasion fast 300.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Zudem vermeiden die Einwohner wegen der Drohnengefahr jede unnötige Fahrt. 

Solche "Netztunnel" sollen auf der Schnellstraße nahe Cherson die Autofahrerinnen und Autofahrer vor Drohnen-Angriffen schützen.

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Solche „Netztunnel“ sollen auf der Schnellstraße nahe Cherson die Autofahrerinnen und Autofahrer vor Drohnen-Angriffen schützen.
Foto: Till Mayer

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Solche „Netztunnel“ sollen auf der Schnellstraße nahe Cherson die Autofahrerinnen und Autofahrer vor Drohnen-Angriffen schützen.
Foto: Till Mayer

Unter den Menschen kursieren weitere Tipps zum Überleben: Nahe der Hauswand oder unter Bäumen laufen etwa, um so kein Ziel abzugeben. Bei Alarm in den Keller oder zumindest in den Hausflur, wo keine Fenstersplitter nach einer Druckwelle wie scharfe Messer durch die Luft zischen. Gerade das Herbstlaub bringt jetzt eine neue Gefahr. Russische Quadrocopter-Drohnen haben in mehreren Stadtvierteln auch POM-Minen abgeworfen. Kleine Mini-Bomben in Schmetterlingsform, die auch in Streubomben oder eben als Landminen Verwendung finden. Von Blättern bedeckt, werden die olivgrünen Sprengsätze schnell zur unsichtbaren, tödlichen Gefahr. Also gilt es für Galina, die Augen offenzuhalten, abseits des Asphalts immer den Boden im Blick zu behalten. Und zudem hören. Wobei für die Frau das Grummeln der Artillerie längst zum Alltagsgeräusch geworden ist. Braamm, braaam – ein Klang, der Tag und Nacht wummert. Galina blickt nicht einmal auf, wenn es in der Ferne kracht. 

Aber das Sirren einer Drohne bedeutet, sofort Unterschlupf zu suchen. Am besten in einem der Betonbunker, die sich oft an Bushaltestellen oder wichtigen Plätzen befinden. Aber der Bunker muss quasi direkt vor der Nase stehen. Hört man eine Drohne, zählen schon Sekunden. Wenn überhaupt noch Zeit bleibt. Anfang August griff eine russische Kampfdrohne einen Linienbus in einem Vorort an: zwei Tote, 16 Verletzte. Immer wieder kommt es zu Vorfällen, in denen russische Drohnen einzelne Zivilisten oder zivile Autos jagen. Dafür hat sich in der Stadt ein trauriger Begriff gebildet: Drohnen-Safari. 

Galiona sagt: „Wir lassen uns das Leben in der Stadt von den Russen nicht nehmen“

„Je näher man dem Fluss Dnipro kommt, desto gefährlicher wird es, von einer Drohne angegriffen zu werden“, sagt Galina. Dann nimmt sie in einem der wenigen noch geöffneten Cafés Platz. Gegenüber zieht sich eine Zeile kleiner Geschäfte, die geschlossen sind. Teile der Café-Fenster sind durch Sperrholzplatten ersetzt. Es gab in der Nähe einen Drohnen-Einschlag.

„Aber sehen Sie, das Café ist geöffnet. Wir lassen uns das Leben in der Stadt von den Russen nicht nehmen. Darauf bin ich stolz“, sagt Galina. Sie könnte schon im Ruhestand sein, hat sich aber dazu entschlossen, weiter als Lehrerin zu arbeiten. Ihr Unterricht findet online statt, alle Schulen der Stadt sind aus Sicherheitsgründen geschlossen. „Die russische Armee ist einfach zu nahe. Auf der anderen Seite des Dnipro sind bereits ihre Stellungen. Jederzeit können wir von einer Drohne angegriffen werden, oder eine Granate oder Gleitbombe schlägt ein“, erzählt die Pädagogin. „Das Leben in Cherson ist zum Lotterie-Spiel geworden“, fügt sie hinzu. Das gilt besonders für die Viertel, die nahe am Fluss und im Zentrum liegen. Aber richtig sicher ist es nirgendwo.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch informiert in einem umfassenden Bericht über den Einsatz russischer Drohnen gegen die Zivilbevölkerung von Cherson. Darin wird der gezielte Angriff auf die Gas-, Wasser- und Stromversorgung, auf Gesundheitseinrichtungen bis hin zu Rettungsteams belegt. „Ihr Einsatz ist Teil von Russlands groß angelegtem Angriff auf die Zivilbevölkerung von Cherson. Hauptzweck ist die Verbreitung von Terror unter der Zivilbevölkerung“, heißt es in dem Bericht weiter.

Die meisten von Galinas Schülerinnen und Schüler sind deshalb schon nicht mehr in der Stadt. „Sie sind über die Ukraine, Europa und die ganze Welt verteilt“, sagt sie und zählt die Länder auf: Deutschland, Polen, Norwegen. Die Kinder, deren Familien nach Kanada und in die USA geflohen sind, sehen sich meist ihre Unterrichtsstunden als aufgezeichnete Clips an. „Es gibt da ja eine große Zeitdifferenz zur Ukraine“, meint die Lehrerin. Sie unterrichtet Elf- und Zwölfjährige in Geschichte. „Ich wurde noch in der Sowjetunion in Odessa ausgebildet. Es hat mich Jahre gekostet, bis ich verstanden habe, welche Halbwahrheiten uns eingetrichtert wurden“, sagt sie. „Während der Besatzung hatte ich mir die Geschichtsbücher angeschaut, die die russischen Besatzer an den Schulen von Cherson eingeführt hatten. Sie waren noch vor der Invasion gedruckt. Darin wurde Geschichte verbogen, um Gebietsansprüche in der Ukraine zu stellen.“ Stalin, der Mann, der in der Ukraine Millionen Menschen verhungern ließ, werde wieder zum großen Staatsführer umgedichtet. „Diese Lügen dürfen nicht mehr fruchten. Deswegen mache ich als Lehrerin weiter“, sagt sie. 

Der Transporter des Rettungsdienstes ist mit einer kleinen Antennenanlage ausgestattet, die Drohnen ortet

Dann steht Galina auf und führt zum Herz der Stadt, dem Platz der Freiheit. Der Weg führt an einem Hausblock aus der Stalinzeit vorbei. Eine Gleitbombe hat hier den Mittelteil des Hauses zum Einsturz gebracht. Ein halbes Badezimmer ist im zweiten Stock zu sehen. Das Waschbecken hängt noch an der Wand. Gegenüber ein gerahmtes Familienbild, wo vermutlich das Wohnzimmer war.

Ludmilla wird in einem gepanzerten Fahrzeug zum Arzt und zurück gebracht. Für die Helfer singt sie zum Dank ein Lied.

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Ludmilla wird in einem gepanzerten Fahrzeug zum Arzt und zurück gebracht. Für die Helfer singt sie zum Dank ein Lied.
Foto: Till Mayer

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Ludmilla wird in einem gepanzerten Fahrzeug zum Arzt und zurück gebracht. Für die Helfer singt sie zum Dank ein Lied.
Foto: Till Mayer

Hinter Galina fährt ein gepanzerter VW-Bus vorbei. Der ausrangierte himmelblaue Geldtransporter ist eine Spende aus Deutschland. Er kommt gerade von einem Krankenhaus. Dort ist Ludmilla mit ihren Krücken nach einem Arztbesuch eingestiegen. Jetzt wird die Seniorin von Jenya und Mykola nach Hause gebracht. Die beiden Freiwilligen haben täglich mehrere Fahrten zu Krankenhäusern und Kliniken, deren Gebäude nicht selten schon Einschläge hatten. Der Transporter ist mit einer kleinen Antennenanlage ausgestattet, die Drohnen ortet. „Das kann unser Leben retten“, macht Jenya klar. Er berichtet, wie eine Drohne ihn bei einem Transport verfolgte. „Das Ortungsgerät hat gewarnt. Ich habe mit dem Wagen noch rechtzeitig ein Ausweichmanöver gemacht, die Drohne schlug daneben ein. Der Schaden war groß, aber niemand verletzt.“

Dass eines Tages Senioren in gepanzerten Fahrzeugen zum Arzt gebracht werden müssen, sich Netze über Straßen ziehen und Surren in der Luft den Tod ankündigt – Galina hätte sich diesen Albtraum vor der Invasion nicht vorstellen können. Die Bilanz: Im ukrainisch gehaltenen Teil der Region Cherson haben russische Drohnen seit der voll umfassenden Invasion 2022 bis zum 21. Juli dieses Jahres 76 Menschen getötet und 1194 verwundet. Rechnet man die Opfer weiterer Explosionen durch Granaten, Minen und Gleitbomben dazu, sind es 365 Todesopfer und 1995 Verletzte.

Eine Kamikaze-Drohne kostet wenig. Oft bestehen diese nur aus einer simplen Billigdrohne, auf der mit Kabelbindern eine Panzerfaust-Granate angebracht ist. Russlands Terror in Cherson ist kostengünstig. Der Angriff auf Zivilisten, so Beobachter, sei oft ein regelrechtes Training für russische Drohnenpiloten. Seniorin Ludmilla beeindruckt das nicht. Sie bedankt sich bei ihren Helfern mit einem Lied. Die Rentnerin singt mit heller und klarer Stimme ein ukrainisches Volkslied. Galina wäre stolz auf sie.

  • Till Mayer

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