Seit vorvergangener Woche kann eine Wissenslücke glanzvoll gefüllt werden – es gibt eine kasachische Moderne, und ja: sie ist relevant. Der kasachische En­trepreneur und passionierte Sammler Nurlan Smagulov hat sich für 120 Millionen Dollar ein Museum errichtet. Das frisch eröffnete Almaty Museum of Arts in der alten Hauptstadt Kasachstans ist das erste Museum für moderne Kunst in dem bodenschatzreichen, aber künstlerarmen Land – die Gesamtzahl zeitgenössischer Künstler in Almaty wird auf vierzig geschätzt, etwa doppelt so viel arbeiten in Berlin in einem einzigen Atelierhaus wie den „Gerichtshöfen“ im Wedding. Die blanken Museumsdaten allein verraten allerdings noch nicht viel über die Schätze im Innern des neuen Hauses: 10.000 Quadratmeter Fläche für mehr als 700 Werke der Sammlung von Smagulov aus Kasachstan, aber auch Zentralasien insgesamt – China und Kirgisistan liegen unweit von Almaty.

Die Stadt, hinter der im Süden sogleich eine Kette mächtiger Zweitausender aufragt, ist wie alte chinesische Städte auf einem Raster aufgebaut, wobei bergan (Almatyer sprechen hier nur von „oben“) mit der besseren Luft auch die gehobeneren Bezirke der Stadt liegen. An einer solchen bergparallelen Avenue befindet sich das Museum. Im Schnittpunkt vertikal „nach unten“ in den Kessel und horizontal am Fuß des Berges entlang führender Boulevards schneiden sich im dekonstruktivistisch aufgesplitterten Museumsneubau – außen mit deutschem Kalkstein, Aluminium und Cortenstahl verkleidet – ebenfalls zwei Traversen, die von einer ca­nyonartigen, glasüberkuppelten Passage in der Mitte verbunden werden.

Anspielungen auf die zerklüfteten Landschaften

Den äußeren Fixpunkt für alle vom Berg oder von unten Richtung Museum Fahrenden aber bildet schon von Weitem die zwölf Meter hohe Skulptur „Nades“ des Bildhauers Jaume Plensa. Der 1955 in Barcelona Geborene verzauberte erst kürzlich zu den Salzburger Festspielen die Musikstadt mit seinem Skulpturenwald „Secret Garden“, nun eben die Kasachen. Das marmorweiße Mädchen von Almaty mit seinen abstrahierten Gesichtszügen und zwei auf traditionelle Weise geflochtenen Zöpfen wurde seit der Enthüllung durch Plensa von den Einheimischen schnell als eine der ihren eingemeindet, weil die Haartracht einer kasachischen ähnelt.

Wenn auch die große „Wind Sculpture“ aus flatternden Stoffen von Yinka Shonibare am Haupteingang rasch von den Einheimischen akzeptiert wurde, liegt dies an der Farbenfreude und dem wilden Mix aus Mustern; falsch ist eine solche Aneignung des Verschnitts aus afrikanischen und asiatischen Mustern nicht, handeln die Werke des britisch-nigerianischen Künstlers doch häufig von kolonialen Austauschprozessen zwischen den Kontinenten Asien und Afrika wie der Adaption in Niederländisch-Indonesien produzierter Export-Baumwollstoffe in Nigeria, die dort quasi als einheimische Textilien gelten. Bedeutung und fatale Auswirkungen der Baumwolle in Kasachstan werden im Museum noch öfter in Kunst gespiegelt.

Im Innern ist dem Londoner Architekturbüro Chapman Taylor ein so nicht zu erwartender Wurf gelungen: Wie in einer Shopping Mall verbindet eine großzügig breite Avenue in der Mitte beide Gebäudeblöcke, und tatsächlich sind die Londoner Architekten nicht nur in Deutschland mit sorgfältiger als üblich gestalteten Einkaufszentren und Bürogebäuden hervorgetreten. Der rechte Flügel besitzt im Parterre einen großen Ausstellungssaal und oben einen Raum für Veranstaltungen sowie eine Galerie mit vier Sälen, die jeweils exzeptionellen internationalen Künstlern der Gegenwart gewidmet sind.

Die warm-beigen Kalksteinwände werden an den Ein- und Durchgängen von rostrotem Cortenstahl gerahmt, was nicht nur einen reizvollen Farbkontrast schafft, sondern auch dem Farbspiel der kasachischen Steppen mit ihrem oxidierten rötlichen Gestein und der Sandfarbe mancher Dünen dort entspricht. Die Anspielungen auf die zerklüfteten Landschaften Kasachstans setzen sich in den tiefen und asymmetrisch dekonstruktivistischen Fenstereinschnitten auf den Seiten fort, die abermals wie Canyons wirken.

Kreuzungspunkt der Kulturen

Das Verquicken von Globalem und Lokalem in der Architektur erscheint auch in der Gliederung der Räume. Flächenmäßig pari pari sind die Säle einesteils für die Spitzen der internationalen Künstlerwelt reserviert, andernteils für die Größen der kasachischen Kunst.

Das beginnt mit einem balkonartig verglasten Emporengeschoss, von dem aus man Sicht auf die letzte von Richard Serra vor seinem Tod noch selbst neu arrangierte Arbeit „Junction“ hat. Vier hausgroße, sphärisch gewölbte Cortenstahl-Flügel biegen sich so in den Raum, dass sie von oben betrachtet eine Kreuzung für Riesen bilden. Man kann noch so viele Serras in seinem Leben gesehen haben – wenn 155 Tonnen Stahl auf gleichermaßen elegant-poetische wie schwerelos wirkende Weise gebogen werden und man hindurchläuft, nötigt einem das jedes Mal wieder von Neuem Ehrfurcht ab.

Zumal die Arbeit nicht nur zwanglos die Wüstenfarben Kasachstans aufnimmt, sondern das Land an der Seidenstraße als Kreuzungspunkt der Kulturen zu spiegeln vermag – ähneln doch Serras gigantische Zeichen im Raum den ebenso monumentalen buddhistischen Weltkulturerbe-Petroglyphen von Tamgaly Tas nur 120 Kilometer von Almaty entfernt, die vor Hunderten von Jahren an einer Handels- und Missionsstation von Buddhisten in die pittoreske Felslandschaft am Ufer des Ili eingraviert wurden.

Ein Fünkchen Hoffnung aus der Asche

Vor Bill Violas sechsteiliger Videoinstallation „Stations“ brechen heute noch viele Menschen in Tränen aus, handeln die Filme doch in seiner unnachahmlichen Weise von nichts Geringerem als den sechs Lebensaltern zwischen Geburt und Tod, gespiegelt in sechs Granitplatten vor den hochrechteckigen Projektionen zwischen dunklem See des Wissens und Grabplatte. Kopfüber stürzen die Menschenkinder Violas in Wasser – als Knabe ertrank er beinahe und hatte dabei ein Nahtoderlebnis –, gehen unter und werden wiedergeboren, etwas, was auch im altkasachischen Tengri-Glauben und Sufi angelegt ist.

Dieses eine Mal ließ Viola sich nicht von Renaissancekunst inspirieren, vielmehr war ihm Zurbarán als Meister barocker Intensität Vorbild für die Kopfübermenschen: Dessen Gemälde „Die Erscheinung des Petrus vor dem heiligen Petrus Nolascus“ von 1629 bildet mit seinem ebenfalls pechschwarzen Fond und dem kopfüber gekreuzigten Petrus die Blaupause für Violas visuelles Philosophieren über den Tod und das Weiterleben.

Auch Anselm Kiefers gigantische Installation „Questi scritti, quando verranno bruciati, daranno finalmente un po’ di luce (Diese Schriften, wenn sie verbrannt werden, werden schließlich etwas Licht bringen)“, Herzstück seiner bleiübergossenen Leinwände im Dogenpalast der sensationellen Biennale-Parallelausstellung 2022, hat Relevanz für Almaty: Wie Kiefer palimpsestartig aus der Asche verbrannter Bücher dennoch ein Fünkchen Hoffnung sprießen lässt, so bauten die Kasachen die 2022 im Qantar-Aufstand – dem sogenannten „blutigen Januar“ – niedergebrannten Häuser wieder auf, ohne dabei irgendetwas zu vergessen.

Wohltueder Blick von außen

Jedes der vier Kabinettstücke im Innern ist somit subtil auf seine Eignung für den „Ost-Westlichen Divan“ dieses Museums hin ausgewählt, und dies trifft selbst auf Yayoi Kusamas Spiegelkabinett „Love is calling“ zu, das zwar schon von 2013 stammt und so oder ähnlich mittlerweile in jedem großen Museum der Welt zu finden ist, jedoch bei den Kasachen besonders gut ankommt. Die verspielt quietschbunten und gepunkteten Formen berühren offenbar etwas in dem Land, in dem Stalin im Zweiten Weltkrieg auch zahlreiche (Nord-)Koreaner ansiedelte und wo sich viele Chinesen tummeln.

So eindrucksvoll die vier Kabinette der Giganten auch sind, nimmt man dafür sicher nicht den weiten Weg nach Kasachstan auf sich, da man Serra und Kiefer auch im Guggenheim Bilbao sehen könnte – als Bau wie als Sammlung ohnehin ein großes Vorbild für Smagulow. Hingegen will man etwas erfahren, das nicht so leicht nachschlagbar ist wie westliche Kunst, etwas über die staatsferne, parallel zur offiziell entstandenen Kunst dieses Landes nämlich. Das tatsächlich Einzigartige ist im Almaty Museum die permanente Ausstellung zur kasachischen Kunst im großen Saal des Erdgeschosses im rechten Flügel.

Besorgt von der lettischen Kuratorin Inga Lāce, bietet sie einen Überblick zu Kunst in Kasachstan von den späten Zwanzigerjahren bis heute aus Sicht einer im späten Sozialismus sozialisierten Baltin. Lāces Blick von halb außen – zwar Ex-Ostblock, doch nicht in landesinterne Händel verstrickt – ist wohltuend. In nur vier thematischen Kapiteln wird eine Quintessenz kasachischer Kunst durch schlaglichtartige Beleuchtung der herausragenden Künstlerpersönlichkeiten und ihrer jeweiligen Einflüsse und Gruppen herauskristallisiert.

Die Zeiten des großen Hungers

Viele der Bilder wirken wie Echos auf Verluste von Innerem durch äußere Katastrophen. Stark zu spüren ist etwa der Verlust der nomadischen Lebensweise (die Jurte als gebautes Abbild des Tengri-Kosmos erscheint wiederholt wehmütig) und vieler Traditionen in Musik und Poesie durch Lenins und Stalins Zwangskollektivierung, ganz konkret das Schrumpfen des Aralsees durch Kolchosen-Baumwollbewässerung, Verseuchungen des Landes durch rabiaten Abbau der immensen Uranvorkommen und um den Weltraumbahnhof Baikonur herum.

Vieles davon wird in farbstark aperspektivischen Kompositionen festgehalten, die durch ihren Mix aus persischer Miniaturmalerei, westlicher Moderne – wie den Muralismo Diego Rivieras, der 1927 Moskau besuchte – sowie autochthoner Traditionen bestechen. Selbst die kasachischen Konstruktivisten der Zwanziger unterscheiden sich schon in der Farbigkeit erheblich von ihren russischen Kollegen: Nicht die gewohnte Trias aus Rot, Schwarz und Weiß dominiert hier, sondern Buntfarben wie bei Alexander Nikolaevich Volkovs „Rhythmical Composition“ aus dem Jahr 1920, die vor Sonnengelb nur so birst und eher Macke ähnelt.

Unter dem Titel „Qonaqtar“ vereint die Kuratorin Bilder zum Thema „(Ver)Sammeln und Gäste“. So nehmen etwa Serenjab Baldanos unbetitelte und verzerrte Knautschgesichter aus seiner Serie „Me and My Masks“ von 1991 direkten Bezug auf die Bedeutung von Musik und Tanz, verkörpert durch kasachisch-chinesische Masken. Eine lebensgroße Skulptur ist restlos aus Musikinstrumenten wie der Dombra-Schalenhalslaute gebildet. Subkutan tauchen aber auch immer wieder die Zeiten des großen Hungers auf. Noch in Qisamedin Maktums „Jute (Hunger)“ von 1973 mit einem verhungerten Kamel wird indirekt auf die schreckliche Hungersnot in den frühen Dreißigerjahren angespielt, die wie Stalins Holodomor in der Ukraine fast der Hälfte der kasachischen Bevölkerung das Leben kostete.

Geschichtliche Wechselfälle des Landes

Die „hellere“ Seite der existenziellen Bedeutung von Essen findet sich jedoch ebenfalls. Das für Kasachen grundlegende Gebot bedingungsloser Gastfreundschaft, die in unwirtlichen Wüsteneien überlebenswichtige „Dostyk“, kondensiert auf zahlreichen Bildern mit gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten gewissermaßen in Öl. Ein interessanter Nebeneffekt ist dabei, dass viele dieser Gastmähler, wie Aisha Galymbayevas „Shepherd’s Feast“ von 1965 oder Salikhitdin Aitbayevs „On Virgin Soil. Lunch­time“, ebenfalls aus den Sechzigern, wie Leonardos Abendmahl aufgebaut sind.

Verblüffend bleibt, wie sich die Kernthemen dieser Kunst auch im Œuvre ihrer wohl wichtigsten Vertreterin Almagul Menlibayeva wiederfinden. Der auch in Europa bekannten, weil seit Jahren in Berlin lebenden Künstlerin ist im gegenüberliegenden Museumsflügel eine Sonderausstellung gewidmet, die mehr als hundert Werke von den Achtzigern bis heute umfasst. Seit den Neunzigern sammelt der gleichaltrige Smagulow ihre Bilder und verfolgt ihr Werk, und es war vor der Eröffnung des Hauses anrührend zu sehen, wie beide, milliardenschwerer Medici Kasachstans und Künstlerin, die in den Achtzigerjahren aus blanker Not und mangels Leinwand buchstäblich auf allem malen musste, vom alten Karton bis zur Plastikfolie, vertraut die chronologisch gehängte Galerie ihres Lebens abliefen, um sich anhand der Bilder über die gemeinsam durchgestandene Vergangenheit zu vergewissern.

Almaguls Werk greift von dem Projekt „Stalins Seidenstraße“ bis zum politisch korrupten Regime und dem im zumindest nominell islamischen Staat eher verpönten Sex furchtlos alle Brandsätze auf. In einem Video läuft sie im weißen Brautkleid, als Verlassene „unbemannt“, durch Almaty und wird schon bald wüst beschimpft. Wie auf „Little Gods from My Mother’s Dress“ von 1995 geht es bei ihr immer wieder um Ur-Stoffe, die schützen wie auch verraten können. Auch die dem Land todbringende Baumwolle kehrt in ihrem eindrücklichsten Film, „Transoxiana Dreams“, wieder: Der wegen des „Weißen Goldes“ bald ausgedörrte Aralsee mit seiner auf dem Trockenen vor sich hin rostenden Armada von Fischerbooten wird zur surreal tarkowskihaften Kulisse für nur mit Fuchsfellen und militärischen Schirmmützen bekleidete Kasachinnen, die hier allegorisch in Schwarz-Weiß die geschichtlichen Wechselfälle des Landes tanzen.

Es sind derartige Mischformen aus Westlichem (Performance, Film noir!) und kasachisch Eigenem, die den Weg nach Almaty in ein neues und doppelt einzigartiges Museum lohnen.