Sind Sie abends zu Fuß in Bremen unterwegs, Frau Hasselmann?

Selten, aber mitunter schon. Als Pendlerin aus dem Umland gehe ich manchmal abends zum Bahnhof.

Fühlen Sie sich dabei sicher?

Ja, meistens schon. Aber „Sicherheit“ oder „sich unwohl fühlen“ ist ja sehr subjektiv. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich abends in einer Straßenbahn unterwegs war. Weiter hinten grölten und stritten junge Männer herum. Diese Lautstärke zur Nachtzeit in einer Straßenbahn – ich hatte keine Angst, aber so ein gewisses Unwohlsein kam da schon auf. Ich bin einfach ein paar Sitze weiter nach vorne gegangen. Man entwickelt dann selbst Vermeidungsstrategien.

Es ist viel zu hören und zu lesen vom wachsenden Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung. Dabei sind die Zahlen der Gewalttaten in der Kriminalstatistik eher rückläufig.

Es gibt tatsächlich eine Diskrepanz zwischen Sicherheitsgefühl und der im weitesten Sinne „objektiven Sicherheitslage“. Eigentlich zeigt uns die PKS, sprich die Polizeiliche Kriminalstatistik, dass zwar nicht alles im Positiven ist, aber die Fallzahlen bestimmter Deliktsgruppen nicht steigen. Zumindest nicht so, dass sie dem entsprechen, was man so in der Öffentlichkeit vernimmt. In diesem Zusammenhang kommt auch etwas zum Tragen, das man das Kriminalitätsfurcht-Paradox nennt.

Das was bedeutet?

Dabei geht es vereinfacht ausgedrückt darum, dass Menschen, bei denen es eher unwahrscheinlich ist, dass sie Opfer von Straf- oder Gewalttaten werden, ein erhöhtes Unsicherheitsempfinden haben. Das betrifft Frauen und ältere Menschen. Obwohl gerade diese Personengruppen im Vergleich zu anderen seltener Opfer von Kriminalität werden.

Welche Gruppe ist denn am gefährdetsten?

Statistisch gesehen ist das Risiko, Opfer von Gewalttaten zu werden, bei jungen Männern am höchsten.

Trotzdem gibt es ja viele Straftaten. Liegt das Unsicherheitsgefühl vieler Menschen da nicht doch nahe?

Da muss man etwas differenzieren. Man sagt schnell: „Der Bürger fühlt sich unwohl.“ Aber das ist etwas ganz Individuelles und Subjektives. Begründet vielleicht darauf, dass ich selbst schon mal Opfer von Straftaten geworden bin. Oder weil ich mitbekommen habe, dass jemandem aus meinem Umfeld etwas passiert ist. Das macht etwas mit mir. Und je nachdem, was ich so in meinem Rucksack habe an Erfahrung und Wissen, oder auch, was ich beruflich mache, bewerte ich das. Und so entsteht dann eventuell eine gewisse Furcht oder ein Gefühl von Unwohlsein.

Die Straftaten sind aber statistisch belegt.

Statistiken sind mitunter mit Vorsicht zu genießen. Nehmen wir zum Beispiel die sogenannte Häufigkeitszahl. Sie gibt an, wie viele Straftaten pro 100.000 Einwohner erfasst wurden. Und sorgte für die Überschrift: „Bremen ist die gefährlichste Stadt Deutschlands.“ Die Häufigkeitszahl ist am Ende aber einfach nur ein Wert, der von den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik abhängt. Mit all ihren Verzerrungsfaktoren.

Welche sind das?

Zum Beispiel das Anzeigeverhalten der Bürger, gesetzliche Änderungen wie die Teillegalisierung von Cannabis oder in Bremen gerade das Abarbeiten der Halde alter Fälle. Es gibt eine Menge Faktoren, die die Statistiken beeinflussen. Aber ich habe am Ende diese eine Zahl, und aus der wird etwas gemacht. Gerne auch im politischen Raum, was das Ganze befeuert. Das führt zu einfachen Antworten auf komplexe Fragen. In diesem Fall: hohe Fallzahlen, also gefährliche Stadt.

Die vielen Raubüberfälle in Bremen waren aber schon sehr real.

Gutes Beispiel: Raubüberfälle bereiten den Menschen Sorge, das ist etwas, was ihnen selbst passieren kann. Und natürlich muss man diese Sorge auch ernst nehmen, weil natürlich jede Raubtat eine zu viel ist. Doch der prozentuale Anteil der Raubtaten an der erfassten Gesamtkriminalität betrug zuletzt ganze 1,3 Prozent. Die Zahlen waren zuletzt rückläufig, weil die Polizei Bremen mit der Sonderkommission „Junge Räuber“ aktiv gegen diese Form der Kriminalität vorgegangen ist.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der eigene Medienkonsum?

Das hat mit Bildung und Alter zu tun. Und mit Fragen wie: Welche Medien konsumiere ich? Welche Zeitung lese ich? Lese ich nur Boulevardpresse? Lese ich nur die Überschriften oder den ganzen Artikel?

Kriminalität ist ein Thema, das immer gut gelesen und geklickt wird.

Na ja, wenn etwas passiert ist, dann interessiert es die Menschen. Da können Medien nicht einfach sagen, dass sie nicht berichten. Sicher sehen wir auch bei renommierten Zeitungen manchmal zu reißerische Überschriften. Aber die werden dann in der Regel inhaltlich von den nachfolgenden Artikeln relativiert.

Gilt das auch für die sozialen Medien?

Das kann man so pauschal nicht beantworten. Welche Inhalte sind seriös, welche eher nicht? Wird der Nutzer optisch verleitet, nur einen Halbsatz zu lesen, oder taucht er digital ein in die gesamte thematische Breite? Ich muss mich also fragen, was ich konsumiere. Und dann natürlich: Wie bewerte ich das alles?

Müssten sich also Menschen, die sich unwohl fühlen, mehr hinterfragen, warum das so ist?

Ja, das wäre ein Weg. Zu schauen, was ist faktenbasiert? Was ist wirklich dran an einem Thema? Was ist reale Angst und was ist einfach nur in meinem Kopf? Ich glaube aber, dass sich nicht jeder damit auseinandersetzen möchte. Viel hängt aber auch davon ab, wie ich generell meine Umwelt wahrnehme und bewerte.

Was ist damit gemeint?

Es gibt auch eine gefühlte Unordnung – Leerstände, Graffiti, herumliegender Müll. Wie bewerte ich das, was macht das mit mir? Nehmen wir die Situation am Hauptbahnhof: Die 25-jährige Studentin der Sozialen Arbeit, die spaziert über den Bahnhofsplatz und sieht in erster Linie soziale Probleme, nicht aber den Kriminalitätshotspot. Ein Polizist, der sich ganz anderes mit Kriminalität beschäftigen muss, sieht das sicher anders. Ebenso die Anlieger, die dort ein Hotel oder ein Restaurant betreiben. Wie ich etwas bewerte, hängt davon ab, was ich wahrnehme, vor allem aber davon, wie ich etwas interpretiere.

Spielt nicht auch die eigene Lebenssituation eine Rolle?

Ja, beispielsweise die wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen man lebt. Wem es nicht gut geht, wer Angst um seinen Arbeitsplatz hat, der reagiert möglicherweise noch sensibler auf solche Themen. Dazu kommt die Zeit, in der wir leben – die kriegerischen Auseinandersetzungen, die desolate wirtschaftliche Lage, der Klimawandel und all die vielen anderen Probleme.

Also Verunsicherung auf verschiedenen Ebenen?

Richtig. Es sind eben nicht nur das Lokale in Bremen oder auch der Nachrichtenkonsum. Wenn ich das Gefühl habe, die ganze Welt bricht auseinander und alles geht den Bach runter, dann wirkt sich das doch wahrscheinlich auf meine Lebenseinstellung aus, auf meine Sicht der Dinge.

Das klingt, als wären da wenig Ansatzhebel für die Politik, um etwas gegen Furcht und Angst zu tun?

Die Politik kann zuhören und die Menschen ernst nehmen mit ihren Sorgen. Weil Furcht und Angst etwas Individuelles sind und zugleich etwas Gesamtgesellschaftliches.

Das Gespräch führte Ralf Michel.

Zur Person

Die Kriminologin Petra Hasselmann, 58, ist seit Herbst 2017 Professorin für Kriminalistik an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung in Bremen. Beruflich kommt sie ursprünglich aus der Polizei, hat 30 Jahre lang als Polizeibeamtin in Niedersachsen gearbeitet.

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