„100 Jahre denken lernen“ – diesen Slogan hat sich die Hochschule für Philosophie (HFPH) in München zum 100. Geburtstag verpasst, den sie am 10. Oktober mit einem Festakt feiert. 1925 vom Jesuitenorden gegründet, ist sie noch heute die einzige Hochschule im deutschsprachigen Raum, die sich ausschließlich der Philosophie widmet. Welchen Beitrag die zur modernen Gesellschaft leisten kann, erklärt der Wirtschaftsethiker und HFPH-Präsident Johannes Wallacher.
Herr Wallacher, viele Menschen halten Philosophie für eine verstaubte Wissenschaft, die sich mit unlösbaren Fragen herumschlägt. Was kann die Philosophie der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bieten?
Wallacher: Sie ist heute aktueller denn je, denn sie behandelt die Grundfragen der menschlichen Existenz. Zentrale Aussagen der Aufklärung, zum Beispiel „sapere aude – bediene dich deines eigenen Verstandes“, oder „cogito ergo sum – ich denke also bin ich“, sind Leitsätze, die uns Menschen heute helfen, Antworten auf beispielsweise die Herausforderung des Themas „Künstliche Intelligenz“ zu geben. Kritisches Denken ist jetzt und in Zukunft wichtiger denn je.
Welche Fragen stehen heute in der Philosophie und bei Ihnen an der Hochschule im Zentrum?
Wallacher: Das ganze Spektrum der alten Fragen: Die Frage nach dem Menschen, nach einem gerechten Zusammenleben in der Gesellschaft, nach der Hoffnung in einer Zeit der großen Verunsicherung. Und natürlich die Gottesfrage, denn die Frage nach dem Menschen ist untrennbar verknüpft mit der Frage nach der Transzendenz, der Unverfügbarkeit. Den intellektuellen Zugang zu dieser Frage wollen wir offenhalten. Dabei geht es keineswegs um Mission. Stattdessen fordern wir Menschen dazu heraus, bei der Frage nach Gott, nach dem Grenzüberschreitenden, Stellung zu beziehen – wie immer auch ihre Antwort ausfällt.
Es gibt heute deutlich weniger jesuitische Professoren an der Hochschule, Sie selbst sind der erste Präsident, der nicht Jesuit ist. Verliert die Hochschule etwas, wenn diese Tradition abnimmt?
Wallacher: Man kann das als Abbau, aber auch als Zuwachs sehen. Es ist ein großer Gewinn, dass heute auch Frauen als Professorinnen an der Hochschule für Philosophie tätig sind sowie Menschen mit anderen Lebens- und Erfahrungshintergründen. In den USA gibt es weiterhin 28 Universitäten, die vom Jesuitenorden getragen werden. Dort sind teilweise überhaupt keine Jesuiten mehr in der Lehre tätig. Aber sie sind dennoch von einem jesuitischen Geist getragen. Die Bildungstradition des Ordens will Menschen umfassend befähigen, kritisch zu denken, ihre Urteilskraft zu stärken, sich als Persönlichkeit zu entwickeln. Dieser Tradition fühlen sich alle Lehrenden von Jesuiten-Hochschulen verpflichtet.
Philosophie und Theologie liegen nah beieinander, an staatlichen Hochschulen werden sie häufig gemeinsam an einem Lehrstuhl unterrichtet. Geht Philosophie ohne Theologie?
Wallacher: Es ist eher andersherum: Theologie geht nicht ohne Philosophie! Natürlich gibt es zwischen beiden Fächern enge Verbindungen. Aber Philosophie ist eine Wissenschaft, die nicht von vornherein glaubt, sondern alles erstmal hinterfragt. Das ist auch für die Theologie wichtig! Wir sehen gerade in der Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Bewegungen – die es nicht nur in anderen Religionen gibt – wie wichtig ein rationaler und kritischer Blick auf Fragen des Glaubens und der Dogmatik sind. Ohne gute Philosophie gibt es keine gute Theologie. Zugleich ist die Philosophie nicht nur für die Theologie relevant, sondern für viele anderen Wissenschaften. Ein Drittel unserer Studierenden hat ein anderes Hauptfach: Medizin, Informatik, Ingenieurswissenschaften, Jura. Weil wir nach unserem Selbstverständnis Philosophie für die Gesellschaft machen, ist dieser interdisziplinäre Austausch für uns genauso wichtig.
In den letzten zwei Jahren hat sich an der HFPH viel getan: Sie sind Mitgründer des Centers for Responsible AI Technologies und der Bayerischen Wissenschaftsallianz für Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschung, kurz FoKS. Was können diese Allianzen bewegen?
Wallacher: Wichtig ist, dass die Wissenschaften bei gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur am Ende eine Art Tusch spielen, sondern die Prozesse von Anfang an begleiten. Am Center for Responsible AI Technologies untersuchen wir im interdisziplinären Austausch mit Datenanalytikern und Programmierern: Wie wird KI konstruiert? Welche Daten gehen ein? Welche Erkenntnisinteressen sind damit verbunden? So können philosophisch-ethische Fragen in der Konstruktion von Algorithmen mitbedacht werden. Das gleiche gilt für breite Fragen der Friedens-, Sicherheits- und Verteidigungsforschung, wo wir heute schwere ethische Erwägungen treffen müssen. Es ist wichtig, von Anfang an Philosophinnen und Ethiker dabei zu haben.
Beim Thema KI haben viele Menschen aber den Eindruck, dass sich diese Technik so schnell entwickelt, dass für ethische Fragen sowieso der Zug abgefahren ist.
Wallacher: Das Zugbild ist immer schwierig, denn es unterstellt, dass wir nur die Möglichkeit haben, aufzuspringen oder ein Stoppschild hinzuhalten. Für uns geht es um die größeren Perspektiven: Wie erklären wir den Menschen, was diese Technologie ist und was nicht? Welche Anwendungen empfehlen wir, welche nicht? Es gibt derzeit eine große Debatte darüber, was KI in Krisen leisten kann. Sollten wir sie in der psychotherapeutischen Begleitung nutzen? Einerseits kann das niedrigschwellig helfen, weil wir momentan einen Mangel an psychologischen Fachkräften haben. Andererseits muss immer klar sein, dass die Interaktion mit einem Chatbot etwas anderes ist als das Gespräch mit einem menschlichen Therapeuten. Welche Entscheidung also sollen wir treffen? Zutiefst jesuitisch ist die Haltung: Vermeide die Extreme! Wir müssen nicht um jeden Preis auf einen Zug aufspringen, um mithalten zu können. Manchmal muss man eine Pause zur Reflexion einlegen, um dann besser, werteorientierter zu sein. Wettbewerbsfähig werden wir bei der KI nur, wenn Menschen Vertrauen in die Technik haben. Und dieses Vertrauen bekommen wir nicht mit der Zugmetapher und mehr Tempo allein.
Wo ist der Mensch der KI denn immer noch voraus?
Wallacher: KI ist immer rückwärtsorientiert, weil sie nur die Daten der Vergangenheit in die Zukunft projiziert. Der Mensch ist aber zukunftsoffen, und er wird in der Zukunft auch mit unerwarteten und nicht vorhersehbaren Erfahrungen umgehen müssen. Da braucht es menschliches Denkvermögen, Urteilskraft, und vor allem Entscheidungsfähigkeit bei der Gesamtabwägung: Hilft mir das Ganze? Wir merken, dass sehr viele Informatiker und Data-Scientists sehr interessiert sind, diesen vertieften Zugang der Philosophie aufzunehmen, weil sie dann in ihrer Disziplin besser und verantwortungsvoller werden.
Also haben die Experten aus Technik und Politik offene Ohren für philosophische Erwägungen?
Wallacher: Eine der großen Errungenschaften der letzten Jahre ist die strukturierte Zusammenarbeit mit der Technischen Universität München. Alle Studierenden der TU können bei uns Philosophieveranstaltungen hören – und sie kommen auch, um diesen weiten Blick aufzunehmen. Als sehr spezialisierte Hochschule sind wir gefragt, wenn es um solche Tiefenbohrungen geht.