Manchmal beginnt eine neue Geschichte mit einem alten Haus. Ein Ort, an dem der Staub von Jahrzehnten in den Ritzen sitzt und der doch einen Sog entfaltet, als wolle er sagen: Erzähl mich. Juliane Primus, 1988 in Karl-Marx-Stadt geboren, hat diesen Ruf gehört. Sie ist Journalistin, Biografin, Sammlerin von Geschichten – und inzwischen auch Lychenerin. Mit ihrem druckfrischen Buch „Lychener Leute – Porträt einer Stadt“ ist sie auf literarische Tuchfühlung zu ihrem neuen Zuhause gegangen.

Hochzeit in Lychen

Der Weg von Julianes Primus führte über Berlin, Potsdam und Paris, durch Zeitungsredaktionen, die ihr den Blick für das Flüchtige und das Bleibende schärften, die aber auch das Gefühl entstehen ließen, dass nach zehn Jahren viele der Großstadtgeschichten auserzählt seien. 2017 kam sie auf der Suche nach einem Ort für ihre Hochzeit nach Lychen. Sie heiratete und blieb.

2019 begann sie mit Matthias Kluckert, ihrem Mann, ein altes Haus am Malerwinkel zu sanieren, das heute Zuhause und Arbeitsstätte zugleich ist: Hier betreibt sie ihre Memoiren-Manufaktur, in der sie Lebensgeschichten anderer Menschen zu Büchern verdichtet. Doch wer Biografien im Auftrag schreibt, kennt die stille Sehnsucht, auch selbst einmal mit eigenem Namen auf dem Cover zu stehen.

Als 2021 in der Neuen Lychener Zeitung ihre Kolumne „Lychener Leute“ startete, war der erste Schritt getan. Anneliese Nennmann, die Schneiderin im „Färberhaus“, war die erste Porträtierte – eine Frau mit einem phänomenalen Gedächtnis, mit Lust am Erzählen. Von da an ergab eines das andere: Türen öffneten sich, Geschichten fanden zur Autorin, und die Stadt begann, zu ihr zu sprechen.

Kollektive Chronik

Das nun vorliegende Buch ist aus diesen Kolumnen gewachsen. Dreißig Geschichten von Menschen, die alle in irgendeiner Weise mit Lychen verbunden sind. Manche stammen aus Familien, die seit Generationen hier leben. Sie berichten vom Kriegsende, von Werkstätten, von Läden, die längst verschwunden sind – und vom Alltag in der DDR. Es sind Erinnerungen, die eine kollektive Chronik ergeben – eine Art gelebte Stadtgeschichte, von innen heraus erzählt.

Doch das Buch ist nicht nostalgisch. Denn Lychen war nie nur die Stadt der Alteingesessenen. Es war immer auch ein Ort, an dem Menschen neu ankamen, ihre Hoffnungen und Pläne mitbrachten. Zugezogene, Rückkehrer, Menschen, deren Lebenswege bis Paris, Belgien, Afghanistan und Nordafrika reichen. Manche haben das Zählen ihrer Umzüge längst aufgegeben. Andere sagen: „Wie viele andere sind wir voller Optimismus und Begeisterung hierhergekommen.“ Wieder andere schwärmen: „Lychen-Downtown, also alles innerhalb der alten Stadtmauer, fühlt sich für mich an wie ein einziges großes Wohnzimmer.“

Zwischen diesen Stimmen entfaltet sich ein tieferer Gedanke: Von sich und der eigenen Lebensgeschichte zu erzählen, bedeutet auch, zu illustrieren, wie Lebenslinien verlaufen – quer durch Ost und West, durch Nähe und Ferne, durch Fremd- und Angekommen sein. Individuelle Erinnerungen und Erzählungen als Spiegel des großen Ganzen, in dem Unterschiede und Gemeinsamkeiten neu verhandelt werden, in Lychen, in der Uckermark.

Ein Stück Selbstreflexion

Die ausgewählten Stimmen spiegeln auch die Autorin selbst. Als Zugezogene, als eine, die bleiben will. Wie würde ihr erster Satz in einer solchen Geschichte über Juliane Primus lauten? Sie überlegt, lächelt, denkt laut über die Herausforderung nach, den einen richtigen Einstieg in einen Text zu finden. Vielleicht: „Es ist einfach so passiert.“ Sie meint damit auch ihre Unbefangenheit, die so vieles möglich machte. Dass sie hier gelandet ist, dass sie Geschichten sammelt, Menschen zuhört, ein Haus rettet, Bürgermeisterin werden wollte, heute Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung ist. Und sagt: „Es ist alles gut so, wie es ist.“

„Lychener Leute“ ist mehr als eine Sammlung von Lebensgeschichten. Es ist ein atmendes, vielstimmiges, widersprüchliches Stück Zeitgeschichte und damit auch ein kleines, unaufdringliches Kaleidoskop deutsch-deutscher Erfahrungen.

„Lychener Leute – Porträt einer Stadt“ wird am Donnerstag, dem 9. Oktober, um 19.30 Uhr im Alten Kino in Lychen vorgestellt. Erhältlich ist es unter anderem in der Memoiren-Manufaktur, in der Handwerksbäckerei, beim Kreativwerk Lychen und bei We & Te.