Seit 1961 ist das furchtbare Foto bekannt, das die Ermordung eines Juden durch einen SS-Mann in der Ukraine zeigt. Unzählige Male wurde es gedruckt und gesendet. Doch erst jetzt gelang Historikern die Identifikation des Mörders.

Rund anderthalb Millionen Menschen. So viele Männer, Frauen und Kinder, jedes vierte Opfer des Holocausts, wurden auf ganz handgreifliche Art zwischen 1939 und 1945 ermordet, in den allermeisten Fällen erschossen. Trotz der unbegreiflichen Dimension gibt es nur eine Handvoll Fotos, die diese Verbrechen dokumentieren – und auf fast keinem davon sind die Täter erkennbar. Zu den ganz wenigen Ausnahmen zählt eine Aufnahme, die erstmals im Mai 1961 öffentlich bekannt wurde – unter dem Titel „The Last Jew in Vinnitsa“.

Der Mann, der auf diesem Foto seine Pistole auf den Hinterkopf eines Mannes richtet, der an einer Grube kniet, ist jetzt mit 99 Prozent Wahrscheinlichkeit identifiziert. Das ist ein bedeutender Fortschritt, den Jürgen Matthäus, von 1994 bis 2025 leitender Historiker am United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington, in einem Aufsatz in der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ (Metropol-Verlag Berlin. Jeweils 96 S., 14 Euro) veröffentlicht hat.

Bereits Anfang 2024 hatte Matthäus in der Fachzeitschrift „Holocaust and Genocide Studies“ neue Erkenntnisse über dieses Foto veröffentlicht – unter anderem den Ort des Geschehens (die Zitadelle von Berdytschiw in der Ukraine, etwa 150 Kilometer westsüdwestlich von Kiew und knapp 60 Kilometer nördlich von Winniza, dem bis dahin angenommenen Ort) und das genaue Datum (den 28. Juli 1941). Die Medien der WELT-Gruppe berichteten und verschafften den neuen Erkenntnissen große Bekanntheit.

Daraufhin, so berichtet es Matthäus in seinem neuen Aufsatz, meldete sich bei ihm ein pensionierter Gymnasiallehrer. „Dieses grauenerregende Bild“, schrieb der namentlich nicht genannte Hinweisgeber, spiele „seit Jahrzehnten in unserer Familie eine Rolle, weil es einen SS-Angehörigen zeigt, der einem Onkel meiner Ehefrau, Bruder ihrer Mutter, ähnlich sieht (Gesichtsausdruck, Uniform mit Rangabzeichen …). Einem Onkel, der als Mitglied der Einsatzgruppe C zum fraglichen Zeitraum ‚vor Ort‘ war.“

Das an sich musste noch nicht unbedingt etwas bedeuten, denn allein bei WELT hatten sich in den 2010er-Jahren drei verschiedene Menschen gemeldet, die im Mörder den eigenen Vater oder einen nahen Verwandten erkannt haben wollten; zwei schickten Porträts der betreffenden Person mit. In allen drei Fällen zeigte sich, dass Missverständnisse vorlagen, weshalb die Redaktion darüber nicht berichtete. In einem Interview Ende Oktober 2021 dann „erkannte“ der Lyriker Rainer René Mueller den Täter öffentlich als den eigenen Stiefvater.

Radikalisierte Kriegsjugend-Generation

Skepsis gegenüber dem neuerlichen Hinweis war also angebracht. „Diese Art von spekulativer Identifizierung von Personen, die auf zeitgenössischen Fotos als Judenmörder oder Teilnehmer an anderen deutschen Kriegsverbrechen zu erkennen sind, scheint angesichts der Proliferation historischer Gewaltfotos auf allen Medienkanälen an Häufigkeit und Verbreitung zu gewinnen“, schreibt der USHMM-Historiker Matthäus in seinem neuen Aufsatz.

Doch die Angaben des Lehrers im Ruhestand waren wesentlich genauer als frühere Identifikationsversuche. Ohne den Namen des Verwandten preiszugeben, teilte er einige Details mit: Geboren worden war der Verdächtige 1906 in Ostfriesland nahe der Grenze zu den Niederlanden. Nach dem Abitur hatte er in Göttingen Französisch, Englisch und Sport auf Lehramt studiert. Wie viele Männer der sogenannten Kriegsjugend-Generation, die zwischen 1900 und 1910 geboren worden waren, radikalisierte er sich in der Weimarer Republik auf der politischen rechten Seite.

Dazu passte, dass er den Angaben zufolge 1931 in die SA eintrat und schon ein Jahr später zur SS wechselte; im August 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, kam er dann zur SS-Totenkopfstandarte „Oberbayern“, die dem KZ Dachau bei München zugeordnet war und zu den Keimzellen der Waffen-SS gehörte. Von Januar bis August 1940 diente der Mann als Schulungsleiter bei der Ordnungspolizei im besetzten Polen und wechselte Anfang Juni 1941 zur Einsatzgruppe C, die im Rücken der deutschen Heeresgruppe Süd in der Ukraine mordete. Letzter bekannter Dienstort des Mannes war Schytomyr, 140 Kilometer westlich von Kiew; hier starb er im August 1943 im Kampf gegen sowjetische Partisanen.

Jedoch hatte die Schwester des mutmaßlichen Schützen, also die Schwiegermutter des Hinweisgebers, die Briefe ihres Bruders aus der Kriegszeit vernichtet. Da er außerdem das Kriegsende nicht erlebte, gab es nach 1945 keine Ermittlungen gegen ihn, die in sehr vielen anderen Fällen zu umfangreichen Akten bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg geführt hatten.

Trotzdem konnte Matthäus die Identität anhand der von den Verwandten genannten Details mit hoher Wahrscheinlichkeit aus verschiedenen Akten ermitteln: Es handelte sich offenbar um Jakobus Albertus Onnen. Da zudem eine Gesichtserkennungssoftware eine Übereinstimmung des bekannten Tatfotos mit drei von der Familie bereitgestellten Porträtaufnahen zwischen 98,5 und 99,9 Prozent ergab, durfte diese Identifikation als Arbeitsgrundlage dienen. 

Nun ließ sich das Leben des Todesschützen nachzeichnen: Jakobus Onnen war der Sohn des Hauptlehrers, also Leiters einer Volksschule, Johann Hermannus Engelken Onnen, geboren 1875 und bereits 1924 verstorben. Offenbar bedeutete der frühe Verlust des Vaters für den Sohn eine Zäsur. Nach dem Studium unterrichtete er von 1932 bis zum Sommer 1939 an der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen bei Kassel, deren Festschrift zum 40-jährigen Bestehen er 1938 herausgab. Darin hieß es unter anderem: „Endlich kam der Nationalsozialismus an die Macht und schaffte das starke Reich. Auch für die Deutsche Kolonialschule brach damit ein neuer Zeitabschnitt an.“

Trotz seiner Zugehörigkeit zur SS seit 1932 zählte Onnen nicht zum Kernbestand des Himmler-Apparats, sondern war „ein Quereinsteiger in die SS-Exekutive“, wie Jürgen Matthäus schreibt. Die erhaltenen Quellen erlauben weder eine Aussage darüber, warum er im August 1939 zur Dachauer KZ-Wachmannschaft kam, noch wie seine Abordnung zur Einsatzgruppe C im Frühjahr 1941 erfolgte. Erstaunlich ist, dass er 1936 bis 1938 dreimal beim SS-Rasseamt um die für SS-Leute obligatorische Heiratsgenehmigung ersuchte – mit drei unterschiedlichen Frauen. Im April 1939 ging er dann eine ungenehmigte Ehe ein.

Die entscheidende Frage jeder Täterforschung ist, was Menschen schlimmste Verbrechen begehen lässt. Zu den üblichen Antworten gehören etwa „seelische Entartung“, „Gruppendruck“, „Karrierismus“ oder – lange Zeit für NS-Täter besonders oft angeführt – „Befehlsnotstand“, also Zwang. Rein ideologische Verblendung genügt als Erklärung nicht, denn selbst der schlimmste Hass allein reicht nicht, die natürliche Tötungshemmung zu überwinden.

Dass es um schlimmste Verbrechen ging, ist unbestreitbar: Die nominell 700, durch Personalrotation insgesamt maximal 800 bis 900 einzelnen Angehörigen der Einsatzgruppe C ermordeten allein von Ende Juni 1941 bis Mitte April 1942 mindestens 106.737 Menschen, zu 90 bis 95 Prozent sowjetische Juden. Das bedeutet, dass rein rechnerisch jeder Angehörige mehr als hundert meist eigenhändig ausgeführte Tötungen beging. Sicher mancher mehr, andere weniger, aber doch fast jeder zahlreiche.

Für eine „seelische Entartung“ schon vor 1941 Onnens gibt es keine Hinweise. Gefühlter „Gruppendruck“ mag vorgelegen haben, doch spricht die lässige Haltung des Mörders eher dagegen: Hier tötete jemand, der darin reichlich Erfahrung hatte und keineswegs unter Zwang stand – man sehe die „mentale Gewöhnung und prozedurale Selbstverständlichkeit“, schreibt Matthäus. 

Das Motiv „Karrierismus“ kann bei einem SS-Unterscharführer ebenfalls ausgeschlossen werden: Dass ein Hochschulabsolvent zwei Jahre nach seinem Dienstbeginn in der Waffen-SS immer noch nur den niedrigsten Unteroffiziersrang bekleidete, statt Offizier zu sein, spricht gegen allzu intensive Aufstiegsambitionen, ebenso der höchste ihm verliehene Orden: das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse mit Schwertern. Eine „eher kümmerliche“ Auszeichnung, wie der Militärhistoriker Christian Hartmann urteilt; bei Fronteinheiten verpönt als „Nichteinmischungsorden“. Ohnehin wurde eigenhändige Beteiligung an der „Endlösung der Judenfrage“ bei den Einsatzgruppen erwartet und konnte daher den eigenen Aufstieg nicht fördern.

Mythos Befehlsnotstand

Beim nach 1945 vielfach beschworenen „Befehlsnotstand“ schließlich handelt es sich um eine Schutzbehauptung: Nicht nur gibt es keinen einzigen dokumentierten Fall von unter Strafandrohung ausgeführten Verbrechen, sondern im Gegenteil zahlreiche genehmigte Gesuche um Versetzung aus verschiedenen Mordeinheiten, die folgenlos blieben.

Von Jakobus Onnen selbst liegen keine Aussagen über seine Tätigkeit hinter der Front vor – Familienerinnerungen erscheinen „anekdotenhaft“, wie Matthäus schreibt. Das Gleiche gilt für die Interpretation seines Sterbens 1943: Dass er am Ende zur Einsicht gelangt sei, „große Schuld auf sich geladen“ zu haben, und deshalb den Tod gesucht habe, ist nicht einmal ansatzweise zu belegen. Dagegen spricht, dass er in indirekt überlieferten Feldpostbriefen Mitte 1942 vom „Endsieg“ sprach.

Nach seinem Tod wurde der Holocaust-Täter Onnen übrigens geehrt wie gefallene Soldaten – auf der Gedenktafel des Friedhofs Weener im Landkreis Leer (Ostfriesland). Beigesetzt wurden seine sterblichen Überreste offenbar als „unbekannt“ auf dem 1996 eingerichteten Sammelfriedhof des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge 20 Kilometer südwestlich von Kiew.

Übrigens ist es bisher nicht gelungen, trotz Mithilfe ukrainischer Forscher (während des russischen Angriffskrieges alles andere als selbstverständlich), auch das Opfer zu identifizieren. Auch Gesichtserkennungsverfahren brachten keine nennenswerten Ergebnisse.

Was bleibt, ist die aufgeklärte Täterschaft auf einer der bekanntesten Bildikonen des Holocaust. Das ist, mehr als 80 Jahre nach den Ereignissen, beachtlich. Doch Fragen blieben, wie Jürgen Matthäus selbst betont: „Ob Jakobus Onnen dieses Dokument seiner Täterschaft, falls er es je sah, als Trophäe oder als Schandmal betrachtete, wird sich nicht klären lassen.“

Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen der Nationalsozialismus, die SED-Diktatur, linker und rechter Terrorismus sowie Verschwörungstheorien.