Im März 1991 laufen zwei Männer mit einem Maßband über weite Felder im Gebiet Dniepropetrowsk. Sie tragen Jeans, Turnschuhe, Lederjacke. Es sind „die ersten ukrainischen Bauern“, wie Oleksandr Glyadyelov seine Fotografie genannt hat. Sie verteilen das Agrarland neu, das siebzig Jahre lang in kollektivem, also Staatsbesitz war.

Das Bild hängt wandfüllend im Foyer des Ukrainischen Hauses im Zentrum Kiews, das Glyadyelov in diesem Herbst eine große Retrospektive gewidmet hat, und es steht wie kein zweites für den Neubeginn dieses Landes nach der Loslösung aus dem Zwangsbündnis mit der Sowjetunion. Glyadyelov hat diese Zeit des Umbruchs dokumentiert und die Landvermesser begleitet, während im Hintergrund die Symbole des alten Landes verschwimmen: eine stählerne Ähre mit Hammer und Sichel an der Spitze und dem Schriftzug „Kolchose Rossija“.

Bis heute fotografiert er in Schwarz-Weiß mit der Leica

Oleksandr Glyadyelov, der 1956 in Liegnitz (Legnica) in Niederschlesien geboren wurde und seit 1974 in Kiew lebt, ist der wohl beste Dokumentar der jüngeren Geschichte der Ukraine. Er ist dabei, als die Menschen 1990 für die Unabhängigkeit ihres Landes demonstrieren: Manche sind stolz in Tracht erschienen, andere haben die blau-gelbe Fahne mitgebracht, ukrainische Symbole, die in der Sowjetunion verboten waren. Einige recken ihre Zeige-, Mittel- und Ringfinger als Zeichen für den Dreizack, das ukrainische Wappen und ebenfalls verboten, mit dem sie ihre Freiheit einfordern. Glyadyelov zeigt die erwartungsvolle, fröhliche Menge auf dem Maidan, der da noch „Platz der Oktoberrevolution“ heißt und mit Lenindenkmal und Hotel „Moskau“ die in Stein gemeißelten Insignien der Besatzer trägt.

Nach dem Umbruch arbeitet Glyadyelov weiter in Schwarz-Weiß und mit seiner Leica, und das im Übrigen bis heute. Seine Motive sind nun weniger die schönen Seiten der Freiheit. Vielmehr fotografiert er mit voller Wucht die Härten, die der Zusammenbruch der alten Ordnung mit sich bringt: streikende Bergarbeiter im Donbass, die höhere Löhne fordern, junge Männer, die nicht mehr in die Sowjetarmee und an Standorte außerhalb der Ukraine eingezogen werden wollen, Zusammenstöße zwischen Anhängern des Kiewer und Moskauer Patriarchats der Ukrainischen Orthodoxen Kirche. Vor allem zu zwei Themen kehrt er in den Neunzigerjahren immer wieder zurück: obdachlose Kinder, die zu Zehntausenden in ukrainischen Städten vagabundieren, und drogenabhängige Jugendliche.

Immer konzentriert auf das Momentum: Der Fotograf Oleksandr Glyadyelov beim Signieren seines BildbandesImmer konzentriert auf das Momentum: Der Fotograf Oleksandr Glyadyelov beim Signieren seines BildbandesStefan Locke

Manche seiner Protagonisten begleitet er jahrelang, etwa Oleksi, der sich vor der Kamera eine Opiumspritze in den Hals bohrt und später an Aids stirbt, oder die Kinder Dima, Slawa und Max, die sich auf einem Holzregal in einem schmutzigen Keller ihr Nachtlager gebaut haben. Dem Problem der von ihren Eltern verlassenen Kinder, das später zur Gründung der Organisation „Save Ukraine“ führte, ist in der Ausstellung ein ganzer Raum mit erschütterndsten Aufnahmen gewidmet. Sie offenbaren das Versagen einer Gesellschaft, die es gewohnt war, dass der Staat alles regelt. Lichtblicke sind Aufnahmen beherzter Menschen, die Kindern eine warme Mahlzeit bieten oder sie in Waisenhäusern aufnehmen. In einem solchen entstand das Bild eines Jungen namens Wowa mit einem Küken auf dem Kopf.

Ruhige Zeiten gibt es in der Ukraine nicht mehr

Dazwischen, in den Nullerjahren: kurze Momente des Glücks. Ein Hochzeitspaar auf der Tanzfläche im Hintergrund, aufgenommen hinweg über die im Unscharfen verschwimmende Hochzeitstafel, eine Musikgruppe in der wunderbaren Landschaft der Karpaten, ein Vogel über der noch freien Krim. Doch ruhige Jahre gibt es kaum in der Ukraine. Nach der gefälschten Präsidentschaftswahl 2004 gibt es wieder Proteste auf dem Maidan. Glyadyelov fängt sie mit seiner Kamera ein, genauso wie die Hoffnung der Demonstranten, als nach Wahlwiederholung Wiktor Juschtschenko, der im Wahlkampf mit Dioxin vergiftet worden war, das Amt übernimmt.

Dass dies das vorerst letzte friedliche Jahrzehnt der Ukraine sein würde, war damals nicht zu erahnen. 2013 protestierten abermals vor allem junge Ukrainer auf dem Maidan: gegen die korrupten Eliten ihres Landes, gegen den immer enger werdenden Würgegriff Moskaus, für eine selbstbestimmte Zukunft. Glyadyelov ist erneut mittendrin; er trotzt der beißenden Kälte, dem Gestank der brennenden Reifen-Barrikaden, und er weicht den Scharfschützen aus. Wiktor Janukowytsch, der moskautreue Präsident, lässt auf sein Volk schießen. Glyadyelov fotografiert die auf einer Seitenstraße auf Decken gebetteten Toten und die trauernden Umstehenden.

Schmerzt beim Hinsehen: Oleksandr Glyadyelov begleitete über Jahre Jugendliche wie Oleksi, der sich hier vor der Kamera eine Opiumspritze in den Hals bohrtSchmerzt beim Hinsehen: Oleksandr Glyadyelov begleitete über Jahre Jugendliche wie Oleksi, der sich hier vor der Kamera eine Opiumspritze in den Hals bohrtOleksandr Glyadyelov

Wenige Monate später besetzt Russland erst die Krim und zettelt dann Aufstände im Donbass an. Glyadyelov, der als Reporter aus Kriegen in Bergkarabach, Tschetschenien, Somalia und Südsudan berichtet hat, dokumentiert nun den Krieg in seinem eigenen Land. Seine Bilder lassen keinen Zweifel, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine bereits 2014 begann. Er begleitet Frontsoldaten, vegetiert mit ihnen in Schützengräben, fotografiert die um ihre gefallenen Söhne trauernden Familien. Mit Russlands Großinvasion im Februar 2022 rückt der Krieg praktisch vor Glyadyelovs Haustür. Er fotografiert eine in ihrer Küche erschossene Frau im Kiewer Vorort Butscha, einen von einer Bombe zerfetzten Nahverkehrsbus im Kiewer Zentrum, ein bei einem russischen Raketenangriff völlig zerstörtes Einkaufszentrum. Er sitzt mit Anwohnern bei Fliegeralarm im Treppenhaus und begleitet sie in ihre halb zerstörten Plattenbauwohnungen.

Tarkowski der Fotografie: Oleksandr Glyadyelovs Ansichten der zerstörten ukrainischen Städte sind ähnlich dystopisch wie die Filmbilder des berühmten RegisseursTarkowski der Fotografie: Oleksandr Glyadyelovs Ansichten der zerstörten ukrainischen Städte sind ähnlich dystopisch wie die Filmbilder des berühmten RegisseursOleksandr Glyadyelov

Glyadyelovs Bilder strafen Wladimir Putin und seine Minister Lügen, wenn sie behaupten, keine zivilen Ziele anzugreifen. Er dokumentiert den russischen Vernichtungswillen gegenüber der ­Ukraine, ja gegenüber allem Ukrainischen, wenn Moskau Schulen, Kliniken, Theater und immer wieder Wohngebiete bombardieren lässt. Glyadyelovs Fotografien sind so einerseits Zeitzeugnisse der Grausamkeit, aber eben auch ein Beweis dafür, dass die Ukraine ein Land mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte ist. Er begleitet sein Heimatland in Zeiten dramatischen Wandels und zeigt es in all seiner Verzweiflung und Zerrissenheit, aber auch Schönheit und Würde und im festen (Überlebens-)Willen, die sowjetische Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen eigenen, von Russland unabhängigen, Weg zu gehen.

Symbolisch ist so gesehen auch der temporäre Ausstellungsort für Glyadyelovs Schaffen: Das Ukrainische Haus in Kiew war einst das Lenin-Museum, das inklusive übermannsgroßer Statue auf drei Etagen dem Gründer der Sowjetunion huldigte. „Ich habe es gesehen“, lautet der Titel seiner Schau, und er könnte auch über Glyadyelovs erstem Bildband stehen, der anlässlich der Ausstellungseröffnung Premiere hatte („Oleksandr Glyadyelov – Fotografien“, ist publishing, Kiew 2025, 276 S., 60 Dollar).

Doch das Buch, das einem Katalog gleichkommt, weil es vierzig Jahre seines Schaffens zeigt, hat keinen Titel. Seine Bilder, sagt Glyadyelov, der nicht viele Worte verliert, sprechen für sich. Auf dem Einband ist Wowa zu sehen, das obdachlose Kind mit dem Küken auf dem Kopf. Glyadyelov hat den Kontakt gehalten, der schüchterne Junge von damals dient heute in der ukrainischen Armee.