Ein Leben zwischen Anstalt und Altar, Adel und Außenseitertum – Disches Roman „Prinzessin Alice“ fragt, wer hier eigentlich verrückt ist: die Frau oder die Gesellschaft.
Prinzessin Alice (1885-969) war eine lebensfrohe Frau, die alles andere als verzärtelt war. Von ihr erzählt der Roman von Irene Dische
Foto: George Stroud/Getty Images
Befremdend, irritierend klingt die Kurzzusammenfassung der Geschichte, die die 1952 in New York geborene Irene Dische in Prinzessin Alice erzählt. Man begegnet in diesem Roman Alice von Battenberg, Großmutter von Charles III. und Urenkeltochter von Queen Victoria.
Schon wer den Wikipedia-Artikel zu dieser historischen Person liest, die von 1885 bis 1969 lebte, kommt aus dem Staunen kaum heraus: Gehörlos zur Welt gekommen, lernte die Prinzessin in mehreren Sprachen Lippenlesen, heiratete Prinz Andreas von Griechenland, gebar ihm vier Töchter und einen Sohn, Prinz Philip, den Vater des derzeitigen Königs, und musste mit der Familie Griechenland nach einem Militärputsch verlassen, nachdem das Heer von den Truppen Kemal Atatürks besiegt worden war.
Doch damit nicht genug: Die Diagnose „paranoide Schizophrenie“ von Sigmund Freud, dem Arzt und Mentor ihrer Schwägerin Marie Bonaparte, brachte sie in die Psychiatrie, aus der sie floh, Nonne wurde, einen Orden gründete und schließlich eine Suppenküche in Griechenland eröffnete, ehe sie in London starb und auf ihren eigenen Wunsch in Jerusalem am Ölberg bestattet wurde.
Irene Dische ist für Überraschungen gut
Dische nimmt für ihre Romane häufig die Perspektive historischer Personen ein und erzählt vermeintlich bekannte Lebensgeschichten auf andere, überraschende Weise. Wenn sie nun Alice aus deren eigener Perspektive sprechen lässt, erleben wir eine Frau, deren Geschichte wenig zu tun hat mit dem, was auf royalen Tratsch versessene Gemüter sich darunter vorstellen.
Sie erscheint als lebensfrohe Frau, die alles andere als verzärtelt ist. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern ihrer Familie nimmt ausgerechnet sie als Taubstumme kein Blatt vor den Mund. Dass ihr sexueller Appetit, ihre Tüchtigkeit, Unverblümtheit und ihre Intelligenz, gepaart mit einer schwärmerischen Gottesliebe, nicht in den Hochadel ihrer Zeit passen, ist klar.
Dass sie dadurch zu dem wird, was man heute „Psychiatrieopfer“ nennt, sich aber selbst nach einer unglücklichen Liebesgeschichte aus den Zwängen der Anstalt zu befreien vermag, streicht der Roman deutlich heraus. Faszinierend ist dieses Leben und die unverbrüchliche Kraft, mit der sie sich allen Schicksalsschlägen widersetzt und schließlich in Griechenland geflohene Juden bei sich versteckt.
Man lernt eine Frau kennen, die sich womöglich im Jahrhundert geirrt hat, für die die Zeit noch nicht reif war. Und man kann mit diesem Roman einmal mehr fragen, welche Verrücktheiten in einer Gesellschaft akzeptiert, welche sanktioniert werden, umso mehr, wenn sie mit Frauen in Verbindung gebracht werden.
Prinzessin Alice Irene Dische Tanja Handels (Übers.), Claassen 2025, 160 S., 20 €