Wie Zählstriche reihen sich die Plastikobjekte an der Galeriewand entlang, eins nach dem anderen in grafische Reihen angeordnet. Weiß mit Akzenten aus Violett, Türkis, Blau, Orange – das typische Farbspektrum der Pharmaindustrie. Tritt man näher, erkennt man die Kugelschreiber. Technisch klingende Namen wie Relpax stehen steht auf ihnen. Atacant, Lipdor, Adavir, Kendall, Wellbutrin XL, Viagra und viele andere.
In Gruppen hängen sie aufgereiht an den blendend weißen Wänden der Kreuzberger Galerie Trautwein Herleth. „Portrait I–V“ heißen die Arbeiten der US-amerikanischen Künstlerin Carolyn Lazard. Entstanden sind sie 2025.
Nicht selbst gesammelt, sondern als ebenjene Konvolute hat Lazard die Kugelschreiber auf Auktionen gekauft: Überbleibsel aus aufgelösten Arztpraxen, im Alltag unbeachtete, massenproduzierte Pfennigprodukte.
Schwarz-goldene Stifte für den Chefarzt
Nach Marken sortiert erzählen sie viel. Über Krankheit, Pharmaindustrie, Einfluss, Design und Klasse. Da sind die schwarz-goldenen schweren für den Chefarzt, die pinken, lustigen für die Brusttasche des Pfleger-Kasacks.
Da sind dynamische Logos und Farben der Zeit. Da wird 80er-Jahre-Türkis-Pink zu zurückgenommenem Ultramarin. Man kann an ihnen ablesen, wie oft welche Pharmavertreter vorbeigekommen sein müssen – und wie oft wohl die jeweiligen Medikamente verschrieben worden sind.
Die Auseinandersetzung mit Krankheit ist ein wiederkehrendes Motiv in den Werken der konzeptionell arbeitenden, 1987 geborenen Lazard, die unter andere 2024 auf der New Yorker Whitney Biennale oder 2022 auf der Biennale di Venezia ausstellte und deren Werke sich mittlerweile in renommierten Sammlungen wie der Berliner Haubrok Foundation befinden.
Der Himmel am Boden
Gelingt es, den Blick endlich von den Kugelschreibern abzuwenden, bleibt er an einer Installation in der Mitte des Raumes hängen. Lazard hat hier leuchtende Deckenpaneele auf dem Boden installiert. Als blicke man in einen spiegelglatten Teich, leuchtet hier ein schäfchenwolkenbetupfter strahlend blauer Himmel der Betrachtenden ins Gesicht.
An den Rändern kräuseln sich sanft wiegende Ahornblätter an den ins Bild hineinragenden Ästen. „Into the Wild Blue Yonder“ heißt die Arbeit, auch hierbei handelt es sich um ein Objet trouvé. Um Leuchtkästen, wie sie in Arztpraxen gern über den Behandlungsstühlen der Patienten montiert werden.
Durch den Sturz der Perspektive zwingt die Künstlerin in die Körperhaltung des Behandelnden, eines Narziss, bei gleichzeitiger Einnahme des Blicks des zu Behandelnden, in den Himmel, die immergültige Metapher des Nach-Lebens, ein umgedrehter Höllensturz.
Weitere Werke umfassen ein wirklich lustiges Archiv aufgekaufter, für Filmdreharbeiten künstlich erstellter Patientenakten und eine immersive Lichtinstallation, die durch den Einsatz von OP-Leuchten die eigene Wahrnehmung direkt und – zumindest für ein paar Minuten – nachhaltig verändert. Mehr möchte man hier nicht vorwegnehmen, das Erlebnis ist jedoch dringend empfohlen. Auch oder gerade weil man dafür eine Zeit lang die Kunst wirklich betrachten muss.
Das zu tun, ist bei den subtilen Werken Carolyn Lazards nicht selbstverständlich. Der Blick tendiert erst fast dazu, über die beiläufigen Arbeiten genauso hinwegzugleiten, wie er es im Alltag gegenüber dem Kranken, dem Dysfunktionalen und Klinischen gewohnt ist. Es lohnt sich bei Trautwein Herleth jedoch sehr, ein wenig mit den Augen hängenzubleiben. Dann hängt nämlich auch das Hirn mit. Und zwar genauso gut, wie nur Kunst das schaffen kann.