Er habe sich, heißt es irgendwo bei Jorge Luis Borges, das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt. Wenn wir die Augen schließen und uns umgekehrt nicht das Paradies, sondern eine Bibliothek vorstellen, woran denken wir? An ehrwürdige Hallen mit Bücherregalen, die ins schier Unermessliche ragen? An Labyrinthe? An das, was die findige Wellness-Industrie seit geraumer Zeit in Duftkerzen mit Namen wie „Die geheime Bibliothek“ oder „Midnight Library“ verkauft – oder doch an den Staub der Jahre?
Erinnerung an die Zeit nach dem Beben: In Christchurch dient seit Juli 2011 ein alter Kühlschrank als Bücherei.Ross and Gap Filler/Mairdumont
Dabei kann eine Bibliothek wirklich alles sein: ein Pracht- genauso wie ein Plattenbau, jahrhundertealt oder gerade eingeweiht, eine Fahrbücherei in einem umgebauten Bus wie in vielen glücklichen ländlichen Gegenden oder auf einem Lastenfahrrad wie in Paris. So weit, so bekannt. In „Bücherschätze – Die ungewöhnlichsten Bibliotheken der Welt“ (Lonely Planet, Ostfildern 2025, 208 S., Abb., geb., 24,95 €) stellt Diana Helmuth fünfzig Büchereien vor, die, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eines gemeinsam haben: ihre Eigenwilligkeit.
Dabei wurde jede von ihnen, die noch bestehenden wie die wieder aufgegebenen, gegründet und gepflegt, weil sie in ihrer spezifischen Form die Bedürfnisse ihrer Nutzer am besten erfüllt oder erfüllen konnte – seien es Einzelne wie der Bergbauingenieur Bruno Schröder aus Mettingen, der sogar in die Dachschräge seines Hauses statisch genau berechnete Regale einbaute, um die mehr als 80.000 Bände unterzubringen, die er sein Eigen nannte, oder möglichst viele wie in „La Fuerza de las Palabras“, der „Kraft der Wörter“ genannten Büchersammlung, die José Alberto Gutiérrez in seinem Zuhause im Süden Bogotás zusammengetragen hat, jeder Band aus dem gezogen, was andere Menschen weggeworfen haben.
Zum Wegwerfen zu schade: José Alberto Gutiérrez hat seine Bücherschätze aus dem Müll gerettet.Guillermo Legaria / Getty
Sie richten sich an künftige Leser wie die „Future Library“ der Deichman Bibliothek in Oslo, deren Texte erst gelesen werden dürfen, wenn die zeitgleich mit ihrer Einrichtung gepflanzten Bäume gewachsen, gefällt und zu Papier verarbeitet worden sind, um sie darauf zu drucken. Oder an Leser in dunklen Zeiten wie die Underground Library im Londoner Bezirk Bethnal Green, die nach einem Bombentreffer der dortigen Zentralbibliothek mit gerade einmal viertausend geretteten Bänden in der noch nicht fertiggestellten U-Bahn-Station eingerichtet worden war.
Ein Pferd kann eine Bibliothek sein – zumindest kann es eine Bibliothek transportieren, wie in Awassa in Äthiopien, wo die Kinder in abgelegenen Dörfern schon Ausschau halten nach den bunt geschmückten Tieren mit ihrer kostbaren Fracht, wann immer sie wieder vorbeikommen sollen. Hier und anderswo werden auch Esel und Kamele als Packtiere für Büchereien eingesetzt. Andernorts sind es moderne Liefer- oder wie aus der Zeit gefallene dreirädrige Kastenwagen, die die Bücher bringen: auf den Äußeren Hebriden oder in der italienischen Basilikata. In Bäumen, Berghöhlen und Telefonzellen finden sich Bibliotheken, an Stränden, in Wäldern und sogar am Südpol.
In Garissa in Kenia nimmt Bibliothekar Joseph Otieno den Kamelen Bücherkisten ab.Alexander Joe / AFP / Getty
Durch die Räume der einen ist eine dicke schwarze Linie gezogen, schließlich steht die Haskell Library sowohl auf kanadischem wie auf amerikanischem Boden. Eine andere – im Flughafen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku – schirmt ihre Leser in riesigen hölzernen Kokons vom Verkehrstrubel ab. Und in Muyinga, einer der größten Städte Burundis, wird eine Bibliothek für gehörlose Kinder unter dem Dach von einem riesigen Hängemattengeflecht durchzogen, in dem gelesen werden kann.
Eine umfunktionierte Telefonzelle in Westbury-sub-Mendip fand Nachahmer im ganzen Land.Ben Birchall / PA Images / Getty
Die Strandbibliothek am Schwarzen Meer im bulgarischen Ferienort Albena besteht aus nicht viel mehr als offenen Bücherschränken, die mit Kunststoffplanen vor den Elementen geschützt werden können, und scheint doch weniger empfindlich als die etwas weiter südlich, in der bulgarischen Sommerhauptstadt Warna, gelegene, nach einer Muschelart benannte Rapana-Bibliothek, wo die Holzbauteile ihrer anmutigen Konstruktion den ersten Winter nicht vertrugen. Die Bibliothek am Strand von Beidaihe am Gelben Meer hingegen ist ein futuristischer Betonbau mit zur See hin liegender Fensterfront, zunächst das einzige Gebäude weit und breit, nun von Apartmenthäusern und Restaurants flankiert.
Lange schon hat Lonely Planet mehr als klassische Reiseführer im Programm: Den schönsten Gärten ist inzwischen ebenso ein Band gewidmet wie kuriosen Begräbnisstätten und Totenkulten. „Bücherschätze“ ergänzt diese Auswahl um einen interessanten Twist. Schließlich erlauben Bücher, vom Lesesessel zu Hause aus bequem in alle Welten und alle Zeiten zu reisen, und dieser Band hat durchaus die Qualitäten eines coffee table books.
Zugleich wird sich, wer in ihm blättert, unversehens bei dem Gedanken ertappen, die nächste Reise doch nach Kisarazu in Japan, auf den Sinai, auf die Isle of Arran im schottischen Meeresarm Firth of Clyde zu planen. Was sich dort – in grasbewachsene Bodenwellen eingelassen, in einem uralten Kloster oder in einer Hütte aus bei einem Unwetter entwurzelten Bäumen – findet, ist tatsächlich nichts weniger als ein Paradies.