Europa ergeht es heute wie in den fünfziger Jahren. Weil der Kontinent damals militärisch schwach war, hätte er sich gegen einen Angriff nur nuklear verteidigen können. Doch es gibt einen Ausweg aus dem schrecklichen Dilemma.

Die britischen U-Boote im schottischen Stützpunkt Faslane üben den atomaren Gegenschlag.Die britischen U-Boote im schottischen Stützpunkt Faslane üben den atomaren Gegenschlag.

Thomas McDonald / Britisches Verteidigungsministerium via EPA

Aus europäischer Sicht war es sehr bequem. Die Ukrainer kämpfen und sterben, die Europäer schicken Geld und Waffen. So hätte es lange weitergehen können. Aber jeder Krieg ist dynamisch, das gilt erst recht für die Ukraine.

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Zum ersten Mal schwappt der Konflikt auf Nato-Gebiet über und demonstriert, dass die behagliche Unterteilung in ein Kampfgebiet und den friedlichen Rest Fiktion ist.

Zivile und militärische Flughäfen in Deutschland und Dänemark werden zum Ziel von Drohnen unbekannter Herkunft. In Polen gibt es kein Rätselraten mehr, wer für die Überflüge verantwortlich ist: Russland. Auch an der Intention besteht kein Zweifel. Eine Drohne kann Zufall sein, ein ganzer Schwarm ist Absicht. Putin will Europa (wozu nach landläufiger Ansicht auch die Schweiz zählt) verunsichern und einschüchtern.

Die EU reagiert auf die Provokationen in der Weise, die sie am besten beherrscht. Sie zerredet das Problem. Der grossspurig angekündigte «Drohnen-Wall» wird, wenn er überhaupt zustande kommt, kein festes Bollwerk sein, sondern ein Emmentaler Käse. Er wird hauptsächlich aus Löchern bestehen. Die Südeuropäer wollen nicht mitmachen, und im Norden bremsen die Militärbürokratie und das Dickicht der Vorschriften die Beschaffung.

Ohnehin sollte die Hauptsorge nicht den Drohnen gelten. Sie sind nur ein weiteres Indiz für eine Entwicklung, an deren Ende auch in Westeuropa ein grosser Krieg stehen könnte. Die erschreckenden Szenarien durchzuspielen, ist der erste Schritt, um diese zu verhindern.

Putin weiss genau, warum er auf Deutschland zielt

Putin verfolgt zwei Ziele. Er will die Ukraine zum Vasallenstaat degradieren und die Nato zerstören. Natürlich weiss der Kreml-Herrscher, dass er einen langen konventionellen Krieg gegen die geeinte Allianz nicht gewinnen kann. Daher versucht er, die Nato politisch zu spalten. Es ist kein Zufall, dass er sich für die Drohnen-Provokationen Deutschland, Dänemark und Polen ausgesucht hat.

Deutschland ist in absoluten Zahlen der grösste Unterstützer Kiews in der EU. Gemessen am Bruttoinlandprodukt gibt kein anderes Land so viel Geld für die Ukraine-Hilfe aus wie Dänemark. Polen warnt seit langem konsequent vor der russischen Bedrohung, und niemand rüstet so stark auf. Zugleich ist das Land die wichtigste logistische Drehscheibe für die westlichen Lieferungen.

Das russische Signal ist also unmissverständlich: Je mehr ihr der Ukraine helft, umso mehr gefährdet ihr euch selbst. In Ostdeutschland, wo die prorussische AfD dominiert, fällt diese Botschaft auf fruchtbaren Boden.

Putin versucht Zwietracht zu säen und die Nato auseinanderzudividieren. Diese besteht im Kern aus einem doppelten Versprechen: Alle für einen und einer für alle. Wenn ein Land angegriffen wird, kann es gemäss Artikel 5 des Nato-Vertrags auf die Hilfe aller anderen Mitglieder zählen. Überdies garantiert Amerika als Gründer und bei weitem wichtigstes Mitglied, seine Verbündeten nicht im Stich zu lassen.

Doch Artikel 5 musste sich in Europa noch nie im Ernstfall bewähren. Zwar standen im Oktober 1961 in Berlin amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie sowjetischen Panzern gegenüber. Aber eben: Es fiel kein einziger Schuss. Hätten die USA Westberlin verteidigt und den dritten Weltkrieg in Kauf genommen? Niemand weiss es.

Diese Ambiguität der Allianz will Putin ausnutzen. Nie waren die Bedingungen dafür besser. Trump schwankt zwischen Bekenntnissen zum Bündnis und ätzenden Bemerkungen. Obwohl sich die Europäer über den wankelmütigen Präsidenten echauffieren, ist ihre Haltung genauso ambivalent.

Würde Deutschland in den Krieg ziehen, wenn Moskau einen kleinen Landstreifen im Baltikum besetzen und mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohen würde? Wenn die Alternative Nachgeben oder Atomkrieg heisst, dürften nicht nur die Deutschen ins Grübeln geraten.

Der Kreml kann darauf vertrauen, dass Russland entschlossener handelt und grössere Opfer in Kauf nimmt. Die Kontrolle über den Konflikt – die sogenannte Eskalationsdominanz – liegt daher bei ihm. Er entscheidet, wie weit er geht. Wie jetzt in der Ukraine.

Wenn Putin seinen Lebenstraum, die Nato zu zerstören und damit die USA aus Europa zu vertreiben, in Griffweite sieht, wird er sich nicht auf ein Abenteuer im Baltikum beschränken. Deutschland ist die europäische Führungsmacht und zugleich extrem verletzlich. Seine Luftverteidigung ist praktisch inexistent. Mittelstreckenraketen für einen Gegenschlag besitzt es nicht, geschweige denn Nuklearwaffen zur Abschreckung.

Bei einem Raketenangriff auf Hamburg hätte Berlin der Atommacht Russland nichts entgegenzusetzen. Würde Moskau eine Neutralisierung der Bundesrepublik fordern, müsste diese wohl nachgeben.

Das klingt alles sehr weit hergeholt. Wenn allerdings jemand vor fünf Jahren prognostiziert hätte, dass eine Drohne am Münchner Flughafen die EU in helle Aufregung versetzen würde, wäre er als Spinner abgetan worden. Dasselbe Schicksal hätte erlitten, wer behauptet hätte, dass Putin nach der Annexion der Krim auch noch die ganze Ukraine mit einer Invasion überziehen würde.

Die Sicherheitslage ist inzwischen so fragil, dass man die Bedrohung zu Ende denken muss. Nur Leichtsinnige berücksichtigen allein, wie wahrscheinlich ein Konflikt ist. Genauso wichtig ist, welchen maximalen Schaden er anrichten kann.

Diese Abwägung hat etwa die Schweiz gänzlich aus den Augen verloren. Sie wähnt sich durch die Neutralität geschützt und vertraut darauf, dass ein Krieg ohnehin nicht stattfinden wird. Gegen den Trend in Europa rüstet die Schweiz kaum auf. Die Liebe zum Sonderweg ist ebenso obsessiv wie riskant.

Es gibt keinen Grund für Panikmache

Die Atommächte Frankreich und Grossbritannien sind gegen nukleare Erpressung besser geschützt, aber sie sind nicht unverwundbar. Würde die russische Nordmeerflotte einen konventionellen Angriff auf den Heimathafen der Atom-U-Boote im schottischen Faslane ausführen, stünde London vor demselben Dilemma: Kapitulation oder das Risiko eines Atomkriegs.

Grossbritannien hat seine Streitkräfte genauso kaputtgespart wie Kontinentaleuropa. Wenn es an Flugabwehrsystemen, Flugzeugen oder Fregatten fehlt und damit an Mitteln für eine verhältnismässige Reaktion, sind Atomwaffen die einzige Alternative. Niemand sollte ausschliessen, dass ein in die Enge getriebener Premierminister den Befehl zum Gegenschlag gibt.

Beginnt ein Konflikt nicht mit einem Big Bang, sondern hybrid mit einer sich allmählich steigernden Intensität, ist es nicht viel besser. Man kann unbeabsichtigt in eine Lage stolpern, in der es nur noch schlechte Optionen gibt.

Geht man das Eskalationspotenzial Zug um Zug durch, ist ein Atomkrieg nicht mehr so unmöglich, wie es heute den Anschein hat. Das ist nicht Panikmache, sondern nüchternes Kalkül, wie es im ersten Kalten Krieg die Grundlage jeglicher Planung war.

Europa hat aus seiner Vergangenheit nichts gelernt. Es befindet sich in derselben Zwickmühle wie in den fünfziger Jahren. Damals hatte die Schutzmacht USA drastisch abgerüstet, während sich die Europäer auf den Wiederaufbau konzentrierten. Der Westen hätte sich gegen einen sowjetischen Angriff nicht konventionell zur Wehr setzen können. Die Nato konnte daher nur die gröbste Keule schwingen. Sie drohte, selbst auf einen begrenzten Angriff mit einem Nuklearschlag zu reagieren.

Diese «Massive Retaliation» genannte Doktrin war unglaubwürdig, weil die Allianz genauso wenig wie heute sofort die Pforten zur atomaren Hölle geöffnet hätte. Erst 1967 wechselte das Bündnis zur «Flexible Response», um auf die Bedrohung abgestuft zu antworten. Nuklearwaffen waren nur noch Ultima Ratio. Die Grundlage bildete eine konventionelle Aufrüstung, nicht zuletzt dank der ab 1955 aufgestellten Bundeswehr.

Es ist absurd. Nach dem Kollaps der Sowjetunion ruinierte Westeuropa mit voller Absicht seine Streitkräfte. Jetzt ist Moskau wieder erstarkt, und wieder geht das Gespenst der massiven Vergeltung um. Lieber rot als tot, hiess es früher. Gegen Scheinalternativen und Fatalismus hilft nur Besonnenheit.

Putin verfolgt politische Ziele, daher genügt es ihm, wenn Russland militärisch haushoch überlegen erscheint. Schon das verschafft ihm genügend Drohpotenzial. Der Krieg in der Ukraine wird irgendwann enden, doch damit hört die Bedrohung nicht auf. Jetzt das Undenkbare zu denken und konventionell aufzurüsten, ist die beste Versicherung gegen jede Erpressung und jede Eskalation bis zum atomaren Armageddon.

Bernhard Piller

vor 5 Minuten

Inwiefern „schwappt der Konflikt auf Nato-Gebiet über“? Ich glaube eher, dass das von gewissen Politikern so dargestellt wird, um die Nato in den Krieg zu ziehen. Der Krieg schwappt auch nicht einfach von allein, sondern dahinter stehen Staaten. Russland kann es nicht sein, denn Russland könnte sich einen Krieg gegen die Nato gar nicht leisten.

Eva D. Dr. Plickert

vor 1 Stunde4 Empfehlungen

Der letzte Satz von Gujers Kommentar ist das überzeugende Fazit aller Überlegungen und Unwägbarkeiten: „Jetzt das Undenkbare zu denken und konventionell aufzurüsten, ist die beste Versicherung gegen jede Erpressung und jede Eskalation bis zum atomaren Armageddon.“ Anders ausgedrückt: „Se vis pacem para bellum!“ Für die konventionelle Aufrüstung müssen die notwendigen finanziellen Opfer gebracht und andere Aufgaben zurückgestellt werden. Verantwortungsvolle Politik muss diese Priorität dem Wähler, der andere Wünsche hat, eindringlich klarmachen.