Am Ende einer Woche voller Wendungen wissen die Franzosen nun zumindest, wie Emmanuel Macron die seit Monaten schwelende Krise nicht lösen will – weder mit der Auflösung der Nationalversammlung noch mit einem eigenen Rücktritt. Stattdessen beauftragte der Präsident den geschäftsführenden Premier Sébastien Lecornu erneut mit der Regierungsbildung.

Frankreich Paris 2025 | Premierminister Sebastien Lecornu erklärt RücktrittVorübergehender Abschied aus Matignon: Lecornu erklärt am Montag (6.10.) seinen RücktrittBild: Eliot Blondet-Pool/SIPA/picture alliance

Noch zu Wochenbeginn hatten viele bereits politische Nachrufe auf den Macron-Vertrauten verfasst. „Ich habe mich gefragt, ob es in diesem Land noch einen Gaullisten gibt“, würdigte Sozialistenchef Olivier Faure am Montag auf X seinen politischen Gegner. Lecornu hatte da gerade erst – nur wenige Stunden nach Vorstellung seiner Regierungsmannschaft im Élysée – seinen Rücktritt eingereicht. „Es gab einen, und er ist gerade mit Würde und Ehre zurückgetreten“, notierte Faure über den Premierminister mit der kürzesten Amtszeit der Fünften Republik.

Macrons letzte Karte?

Die Wiederernennung Lecornus zerstört nun die Hoffnung des Parti Socialiste (PS), endlich selbst den Regierungschef stellen zu können. Seit den von Macron vorgezogenen Parlamentswahlen im Sommer 2024 verfügt keine politische Kraft in der Nationalversammlung über eine Mehrheit. Doch das als Nouveau Front populaire (NFP – Neue Volksfront) angetretene Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen und den Linkspopulisten von La France Insoumise (LFI) vereint mehr Sitze als die beiden anderen großen Blöcke – das rechtsnationale Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und Jordan Bardella sowie das um die konservativen Republikaner (LR) erweiterte Präsidentenlager.

Emmanuel Macron und Sebastien Lecornu nach Militärparade am NationalfeiertagSeit Jahren enge Vertraute: Staatspräsident Macron (li.) und Premier LecornuBild: Ludovic Marin/AFP

Macron setzte bislang stets auf Premierminister aus den eigenen Reihen. Doch sowohl Michel Barnier (LR) als auch François Bayrou wurden vom Parlament gestürzt. Wäre es also nicht Zeit für eine Kohabitation – eine Zusammenarbeit des Präsidenten mit dem gegnerischen Lager? Während ein Bündnis mit den Linkspopulisten von LFI ausgeschlossen ist, schien eine Verständigung mit den staatstragenden Sozialisten zumindest denkbar.

Lecornus Mission Impossible

Am Freitag hatte Macron das Führungspersonal der Parteien – mit Ausnahme von LFI und RN – in den Élysée-Palast eingeladen, um eine Lösung für die politische Blockade zu finden. Schon in der kommenden Woche muss der Haushalt 2026 ins Parlament eingebracht werden, um die verfassungsmäßigen Fristen einzuhalten. Ratingagenturen und Wirtschaftsvertreter sorgen sich angesichts der hohen Staatsverschuldung und der politischen Entwicklung schon um die Stabilität in Frankreich.

Die Spannungen entzünden sich vor allem an Themen, die Frankreich seit Jahren spalten: an Sozialpolitik, Rentenalter und Haushaltsdisziplin. Doch anders als in Deutschland, wo Kompromisse über Parteigrenzen hinweg zum politischen Alltag gehören, fehlt in Frankreich eine Tradition breiter Regierungsbündnisse. Der von den bisherigen Regierungen für das kommende Jahr vorgesehene Sparkurs geht den Sozialisten zu weit, während Macron eine Rücknahme oder Aussetzung der gegen großen Widerstand durchgesetzten Rentenreform strikt ablehnt.

Auf die Sozialisten kommt es an

Die Sozialisten, deren Stimmen über das Schicksal der neuen Regierung entscheiden könnten, erhöhen nun den Druck auf den Premier. Sollte Lecornu die Rentenreform nicht „sofort und vollständig aussetzen“, werde man ihn im Parlament stürzen, erklärte PS-Generalsekretär Pierre Jouvet am Samstagfrüh gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. In seiner Regierungserklärung müsse der Premier außerdem zusagen, den umstrittenen Artikel 49.3, der eine Verabschiedung des Haushalts ohne Parlamentsvotum erlaubt, nicht mehr anzuwenden. „Wenn das nicht geschieht“, so Jouvet, „werden ihm die Abgeordneten das Misstrauen aussprechen.“

Frankreich Paris 2025 | Treffen linker Parteienvertreter im Élysée-Palast zur RegierungsbildungPS-Chef Olivier Faure (3. v.l.) und weitere Vertreter des NFP treffen im Élysée-Palast einBild: Ludovic Marin/AFP

Beobachter sprechen von einem politischen Balanceakt in Paris. Lecornu könne es sich nicht leisten, die Linke völlig zu brüskieren – gleichzeitig dürfe er keine Schwäche gegenüber dem Präsidentenlager zeigen. „Er hat am Abend durchblicken lassen, dass er für eine Tolerierung oder Beteiligung von links die Rentenreform aussetzen könnte, mit der das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre angehoben wird“, analysiert Jacob Ross von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) – ein „fatales Signal“, wie der Frankreich-Experte betont.

Le Pen wittert ihre Stunde

Noch ist völlig offen, wie das Kabinett Lecornu II aussehen wird. Der Druck auf Premier und Präsident ist massiv – nicht nur von links. In den vergangenen Tagen haben sich mehrere enge Macron-Verbündete vom Präsidenten distanziert. Der frühere Premier Édouard Philippe, dessen Partei Horizons bislang Minister stellte, forderte gar den Rücktritt des Präsidenten. Innenminister Bruno Retailleau, zugleich Vorsitzender der Republikaner, hat bereits erklärt, dem neuen Kabinett nicht mehr angehören zu wollen; auch andere Minister erwägen offen einen Rückzug.

 Marine Le Pen reagiert bei Feuerwehr-KonferenzKrisenprofiteurin? Marine Le Pen beim Nationalkongress der Feuerwehr in Le MansBild: Jean-Francois Monier/AFP

Marine Le Pen verfolgt das politische Schauspiel derweil aus sicherer Entfernung. Beim 131. Nationalkongress der Feuerwehrkräfte in der Provinz gibt sie sich volksnah, lobt junge Rekruten und fordert eine bessere Ausrüstung für die Einsatzkräfte. Für RN-Chef Jordan Bardella ist Macron im Élysée „isolierter und abgehängter denn je“. Er nennt die neue Regierung „einen schlechten Witz, eine demokratische Schande und eine Demütigung für die Franzosen“. Auf X kündigt er zugleich an, das Kabinett so rasch wie möglich stürzen zu wollen. Le Pen und Bardella fordern Neuwahlen – oder den Rücktritt des Präsidenten.

Politisches Theater

„Heute Abend betrachte ich meine Mission als beendet“, hatte Sébastien Lecornu am Mittwochabend in den Hauptnachrichten einem Millionenpublikum verkündet. Seine Rückkehr, von der viele Beobachter annehmen, dass sie Neuwahlen höchstens hinauszögert, beginnt er nun alles andere als euphorisch. „Ich akzeptiere – aus Pflichtgefühl – die mir vom Präsidenten anvertraute Mission“, postete der neue Premier kurz nach seiner Wiederernennung auf X. Es sei „ein schwieriger, aber gangbarer Weg“.

Viele Franzosen indes können das politische Schauspiel kaum noch ernst nehmen. Das Vertrauen in die Institutionen, sagt Frankreich-Experte Ross, habe spürbar gelitten. Diese politische Erschöpfung spiegelt sich auch in den Umfragen wider: Das Rassemblement National würde derzeit mit rund 35 Prozent klar die erste Runde vorgezogener Parlamentswahlen gewinnen und sowohl das Linksbündnis als auch Macrons Lager weit hinter sich lassen.

Immer mehr Bürger reagieren fassungslos auf das Ringen in Paris und fordern Konsequenzen. Laut jüngsten Erhebungen wünschen sich mittlerweile gut zwei Drittel der Franzosen den Rücktritt des Präsidenten. Doch Macron schließt das aus. Er werde sein Mandat bis zum Frühjahr 2027 erfüllen, soll er den Parteichefs am Freitag im Élysée-Palast versichert haben.