Interview | LKA-Kommissar zu sexueller Ausbeutung

„Die wenigsten minderjährigen Prostituierten wollen gerettet und befreit werden“

Symbolbild: Prostituierte stehen an der Kurfürstenstraße in Berlin Schöneberg. (Quelle: imago images/Kremming)Bild: imago images/Kremming

Beim Berliner Landeskriminalamt gibt es ein eigenes Kommissariat, das sich mit der Zwangsprostitution und dem Menschenhandel Minderjähriger befasst. Und das sei ausgelastet, sagt Polizist Nikklas Berger. Die Opfer kommen aus allen Schichten.


rbb|24: Hallo Herr Berger, Sie arbeiten beim LKA angesiedelt in einem Kommissariat, das sich mit Menschenhandel und Zwangsprostitution zum Nachteil von Minderjährigen beschäftigt. Warum gibt es das eigens für unter 18-Jährige?

Nikklas Berger: So können wir jedem Delikt und den Feinheiten der Tatbestände besser gerecht werden. Es gibt Arbeitsausbeutung, das Schleusen und auch die betrügerische Erlangung von Aufenthaltstiteln als Zuständigkeiten bei uns im Dezernat.

Für die sexuelle Ausbeutung gibt es dann zwei Kommissariate – eines zum Nachteil von Erwachsenen und eines zum Nachteil von Minderjährigen. Das macht, was die Bearbeitung und den Umgang mit den Geschädigten betrifft, Sinn. Denn wie man mit der geschädigten Person weiterarbeitet und welche Maßnahmen man nach den Vernehmungen und polizeilichen Maßnahmen ergreift, unterscheidet sich gravierend.

Zur Person

Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm, in Berlin-Tempelhof, fotografiert am 02..09.2019. (Quelle: Picture Alliance/Bildagentur-online/Schoening)

Bildagentur-online

Nikklas Berger

ist Mitte 30 und arbeitet im LKA Berlin im Kommissariat für die Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger. Er ist Kriminalhauptkommissar und wird derzeit im Rahmen eines Qualifizierungsprogramms zur Führungskraft im gehobenen Dienst ausgebildet.


Inwiefern denn?

Das geht ganz einfach los: Nachdem wir einen Jugendlichen vernommen haben, der nachts auf der Straße aufgegriffen wurde, müssen wir ihn irgendwohin bringen – beispielsweise zum Jugendnotdienst. Erwachsene bitten wir in einem vergleichbaren Fall, telefonisch erreichbar zu bleiben und sie können gehen.


Gibt es so viele Fälle von sexueller Ausbeutung zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen, dass ein eigenes Kommissariat sich lohnt?

Wir haben im Hellfeld der sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen weniger Fälle und Ermittlungsverfahren als bei den Erwachsenen. Doch wir haben eine gute Kommissariatsstärke und sind ausgelastet. Gerade was die Ermittlungsintensität angeht, gibt es bei uns Sachverhalte, die sicherlich dynamischer sein können und wodurch dann mehr Druck auf dem Kessel ist, als bei Fällen im Erwachsenenbereich.


Wenn es allein in Berlin so viele Fälle gibt, dass ein ganzes Kommissariat gut ausgelastet ist: Warum kriegt man davon im Berliner Alltag fast nichts mit?

Das liegt am Grundcharakter der Ausbeutungsdelikte. Sie leben davon, dass die Dienstleistungen so angeboten werden, dass sie zwar wahrgenommen werden können, aber nicht zu offensichtlich sind. Im Bereich Arbeitsausbeutung bedeutet das beispielsweise hinsichtlich Restaurants, Nagelstudios oder dem Einzelhandel, dass es dort ein großes Bedürfnis der Menschen an der jeweiligen Dienstleistung gibt. Und sie wollen so wenig wie möglich zahlen. Deshalb schauen sie in Sachen Arbeitsbedingungen nicht so genau hin.

Im Bereich der Prostitution ist es, was erwachsene Geschädigte betrifft, ähnlich. Doch die Prostitution von Minderjährigen ist grundsätzlich illegal. Sie findet deshalb von Anfang an in einem Rahmen statt, der der Öffentlichkeit gar nicht zugänglich ist. Zugang haben nur Freier – die kein Entdeckungsinteresse haben.


Wo findet die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen denn dann statt in Berlin?

Was die Prostitution Minderjähriger betrifft, gibt oder gab es den Tiergarten, den Regenbogenkiez und die Kurfürstenstraße – aber eher vereinzelt. Das Narrativ, dass es in Berlin einen offenen Kinderstrich gibt, können wir nicht bestätigen.

Klassisch ist inzwischen die Prostitution von Minderjährigen über das Internet. Wenn das leicht erkennbar passiert, sind wir schnell im Boot. Wir führen online Initiativermittlungen durch, um solchen Fällen nachzugehen. Es ist aber einfach, ein falsches Alter anzugeben und dann kommen wir schlecht ran. Da sind wir mitunter sogar auf die Verdachtsmeldungen von Freiern angewiesen.


Die gibt es?


Wie alt sind die Kinder und Jugendlichen, deren Fälle Sie in Ihrem Kommissariat bearbeiten?

Das hängt stark davon ab, über welche Struktur Kinder in die Sexarbeit geraten. Wenn sie vom Täter ausgesucht und über eine bestimmte Masche, wie die Loverboy-Methode, an die Prostitution herangeführt werden, liegt es daran, wann der Kontakt zustande kommt. Hier wissen die Täter, dass wenn sie ein Mädchen für sich gewinnen konnten und ihr dann sagen, dass sie Geldprobleme haben, diese für sie anschaffen gehen. Es gibt aber auch Konstellationen, in denen im sozialen Nahfeld der Geschädigten jemand auf die Bedürfnisse der Minderjährigen eingeht. Da werden teure Klamotten in Aussicht gestellt, die durch sexuelle Kontakte dann Realität werden. Und dann gibt es noch die sozialen Medien, über die den Jugendlichen selbst klar wird, dass sie mit Sex Geld verdienen können. Das Mindestalter der Kinder und Jugendlichen lässt sich wirklich schwer festmachen.


Es sind aber im Regelfall eher keine Elfjährigen?

Da gibt es Einzelfälle. Aber die meisten sind eher Teenager.

Dass so viele Prostituierte wie Bauarbeiter benötigt werden, kann ich mir persönlich nicht vorstellen.

Nikklas Berger, Kommissar des LKA Berlin


Wie kann es sein, dass Kinder in Deutschland in diese Situation geraten? Was ist mit ihren Eltern, die für ihren Schutz zuständig sind?

Es gibt auch da kein Muster. Wir haben Geschädigte aus allen sozialen Schichten. Manche haben auch keine Geldnöte und es wäre gar nicht nötig, dass sie sich prostituieren. In der Regel sind es die Gesamtumstände: Um Drogen zu finanzieren, können Jugendliche den Weg in die Prostitution finden. Und da ist es auch egal, was die Eltern machen oder verdienen. Wenn ein Kind Drogenabhängig wird, in den falschen Freundeskreis gerät oder über die Loverboy-Methode angeworben wird, kann es passieren, dass es in der Prostitution landet.


Vor einigen Jahren gab es minderjährige Jungen aus Osteuropa, die sich auf Geheiß ihrer eigenen Familien im Berliner Tiergarten prostituiert haben. Da waren die Eltern, die nicht einmal hier im selben Land waren, die Ausbeuter. Wie gehen Sie mit solchen Fällen um?

In solchen Fällen an die Eltern heranzukommen, ist schwierig. Das sind organisierte Strukturen, die auf Menschenhandel und die Ausbeutung der Minderjährigen angelegt sind. Da ist oftmals nur die Frage, wo es für die einzelnen Kinder hingeht: Diebstahl, Betrug oder Prostitution. Für uns gibt es da auch bei uns kein Schema-F, mit dem wir vorgehen können. Wir als Polizei sind neben der Prävention, also dem Bekämpfen von Tatgelegenheiten, vor allem für die Strafverfolgung zuständig. Die Sozialarbeit mit den Kindern oder Jugendlichen beziehungsweise deren Eltern liegt beim Jugendamt.


Und den Tätern geht es immer darum, die Minderjährigen auszubeuten, um sich selbst finanziell zu bereichern?

Das ist das Wesen von Ausbeutung. Aber bei der Prostitution von Minderjährigen ist es nicht immer so, dass ein Erwachsener die Situation monetär für sich nutzt. Es gibt auch Täter, die für sich selbst die Bedingungen schaffen wollen, mit Minderjährigen Geschlechtsverkehr haben zu können. Dafür bieten sie nicht immer Geld. Sondern da geht es mitunter auch um sogenannte offene Wohnungen. Gerade dort, wo die Sozialstruktur schwach ist und Täter wissen, dass viele Jugendliche nicht bei den Eltern, sondern in Einrichtungen wohnen und dort ständig abhauen, bieten Täter Wohnungen an, wo die Jugendlichen hinkommen, schlafen und auch Alkohol und Drogen konsumieren können. Die Täter nutzen diese Situation dann, um an die Jugendlichen heranzukommen.


Das heißt, die Täter missbrauchen die Jugendlichen selbst oder organisieren Prostitution?


Sie haben täglich mit heftigen Kinderschicksalen zu tun. Gibt es einen Fall, der Sie besonders berührt hat?

2024 hat sich ein offensichtlich minderjähriges Mädchen auf der Kurfürstenstraße prostituiert. Sie war drogenabhängig und fiel uns mehrmals auf. In Vernehmungen machte sie Falschaussagen. Ob sie zur Prostitution gezwungen wurde oder sich ausschließlich selbst für Drogen anbot, konnten wir nicht ermitteln. Wenn wir sie aufgegriffen haben, haben wir sie im Anschluss in ihre aktuelle Jugendeinrichtung zurückgebracht. Anfang 2025 wurde sie dann in einer Wohnung tot aufgefunden. Der Fall hat deutlich gezeigt, wie schnell die Spirale abwärts gehen kann und auch, wie schwer unsere Arbeit ist, wenn wir nicht an die Personen rankommen.

Das ist gerade bei der Prostitution von Minderjährigen oft der Fall. Die wenigsten wollen gerettet und befreit werden. Viele sind drogenabhängig oder Borderline-erkrankt und an sie kommen wir kaum heran. Sie haben oft kein Interesse an einem Strafverfahren. Dann arbeiten wir gegen zwei Parteien.


Wie oft finden Sie Täter und wie können Sie die Straftaten am Ende vor Gericht bringen?

Gefunden wird schon oft. Öfter, als am Ende bestraft wird. Bei den Gerichtsverfahren gibt es Grundsätze, die man nicht umgehen kann. Und selbst wenn wir handfeste Indizien für die Prostitution einer minderjährigen Person haben und sogar eine Struktur – also Personen, die dahinterstehen und die Jugendlichen mindestens aktiv motivieren – ist es oft so, dass die Jugendlichen selbst oft gar nicht in der Lage sind, sich zu äußern. Sie haben oft auch kein Interesse daran, zu den Gerichtsterminen zu kommen. Da geht es dann manchmal schief. Gerade, wenn der Gerichtstermin erst anderthalb Jahre später erst stattfindet. Dann leben die Geschädigten mitunter wieder in denselben Verhältnissen und Abhängigkeiten zu den Tätern – und oft sind sie dann volljährig inzwischen.


Sie haben eingangs gesagt, in Ihrem Dezernat werden Arbeitsausbeutung, Schleusungen und die betrügerische Erlangung von Aufenthaltstiteln bearbeitet. Jetzt haben wir sehr viel über Prostitution gesprochen. Ist das auch das Delikt, das Sie quantitativ am meisten beschäftigt?

Was die Fallzahlen im Hellfeld angeht, überwiegt tatsächlich die Prostitution. Die Zahlen für die Arbeitsausbeutung und das Einschleusen von Minderjährigen sind schwer zu fassen. Aber das liegt in der Natur der Sache. Wenn man sich die Bereiche für Abnehmer von Arbeitsausbeutung anschaut: die Baubranche, Lieferdienste, Nagelstudios und so weiter – da geht es um Masse. Da wird richtig um Personal gerungen. Dass so viele Prostituierte wie Bauarbeiter benötigt werden, kann ich mir persönlich nicht vorstellen.

Herr Berger, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24