Was würde es bedeuten, wenn nacheinander in den drei großen europäischen Ländern Frankreich, Großbritannien und Deutschland in den kommenden Jahren rechtsextreme Parteien an die Macht kämen? Würde Putin dann seine Ziele auch ohne Militäreinsatz erreichen?
Die These mag nicht unbedingt auf der Hand liegen. Doch ein Blick auf die angespannte innenpolitische Lage in den drei großen europäischen Staaten Frankreich, Großbritannien und Deutschland sowie auf die demoskopischen Spitzenplätze der rechtsextremen beziehungsweise rechtspopulistischen Parteien in den jeweiligen Ländern zeigt: Sollten der Rassemblement National (RN), die Reform UK Party und die AfD in den kommenden Jahren an die Regierungsmacht gewählt werden, die allesamt für ein Ende der europäischen Ukraine-Hilfe eintreten und eine deutliche Nähe zum Narrativ Moskaus aufweisen, hätte Wladimir Putin ein strategisches Ziel erreicht – auch ohne einen direkten Angriff auf Nato-Territorium.
Russlands hybride Kriegsführung gegen europäische Staaten, nächtliche Drohnenüberflüge über Flughäfen und kritische Infrastruktur tragen weiter zur Verunsicherung der Bevölkerung bei und beeinflussen dadurch die Meinungsbildung. Falls diese Rechnung des Kremls ausgehen sollte, würden Frankreich, Großbritannien und Deutschland nacheinander ihre Unterstützung für den ukrainischen Abwehrkampf gegen Putins Invasionsarmee einstellen oder verringern, sobald die rechtextremen Parteien ihre Wahlsiege in Paris, London und Berlin feiern könnten.
Frankreichs Lage instabil
In Frankreich steht Emmanuel Macron innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand. Seine fehlgeleitete Entscheidung vom Sommer 2024, vorgezogene Neuwahlen zur Nationalversammlung abhalten zu lassen, führte zum Verlust der parlamentarischen Mehrheit für Macrons Kurs. In rascher Folge scheiterten danach bislang fünf Premierminister an der Aufgabe, dem hochverschuldeten Land einen Sparhaushalt zu verordnen. Der rechtsextreme Rassemblement National (RN) führt in den aktuellen Meinungsumfragen mit deutlichem Abstand – sowohl bei den nächsten Parlamentswahlen als auch bei den Präsidentschaftswahlen, die spätestens im April 2027 stattfinden müssen und bei denen Macron nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten kann.
Das renommierte Umfrageinstitut Ifop (Institut français d’opinion publique) sieht in seiner jüngsten Erhebung vom 25. September den RN bei den Präsidentschaftswahlen weit vorne, und zwar einerlei, ob der junge RN-Parteivorsitzende Jordan Bardella antritt oder Marine Le Pen, die wegen Veruntreuung von EU-Geldern verurteilt worden ist und derzeit nicht kandidieren darf. In den Umfragen zu den Parlamentswahlen, die wegen des Wahlsystems etwas schwerer zu prognostizieren sind, sieht Ifop den Rassemblement National ebenfalls auf Platz 1.
In Großbritannien führt die rechtsnationale Reform UK Partei
Binnen kurzer Zeit hat der britische Premierminister Keir Starmer von der Labour Party politische Kapital verspielt, das seine Partei bei den Unterhauswahlen im Juli vergangenen Jahres hatte einfahren können. Mit einer absoluten Parlamentsmehrheit von 411 der 649 Sitze könnten Starmer und seine Regierungsmannschaft ungefährdet die volle fünfjährige Legislaturperiode angehen. Der britische Premierminister, der im Kreis der europäischen Nato-Verbündeten verlässlich zur militärischen und politischen Ukraine-Hilfe steht, rutschte jedoch seit dem Wahlsieg in eine dramatische demoskopische Abwärtsspirale: Knapp 80 Prozent der Briten sind inzwischen laut der jüngsten Umfrage der Meinungsforschungsinstituts Ipsos vom September mit Stahmer unzufrieden.
Mit der amtierenden Labour-Regierung sind sogar 82 Prozent der Befragten unzufrieden. Die konservativen Tories, die seit dem Verlust ihrer langjährigen Regierungszeit weit ins rechtspopulistische Lager gerückt sind, drohen auf Dauer von einem Politiker überrollt zu werden, der seit Jahrzehnten die rechtsnationalen Reflexe eines Teils der britischen Wählerschaft bedient und nun oben auf ist: Nigel Farage, einstmals vehementer Befürworter des Austritts Großbritanniens aus der EU und mittlerweile Chef der rechtsnationale Reform UK Party.
Zwar hält kaum noch ein Drittel der Briten den Brexit für eine gute Idee. Doch, so schreibt die „London Review of Books“ in ihrer neuesten Ausgabe vom 9. Oktober, „unterdessen sieht es so aus, als könnte der Mann, der am engsten mit den Austritt Großbritanniens aus Europa verbunden ist, unser nächster Premierminister werden.“ Falls jetzt Wahlen wären, würde „Reform UK“ Partei mit weitem Abstand vor der regierenden Labour-Partei auf Platz 1 landen, mit 34 Prozent der Stimmen.
Farage lasse sich „seit langem von Putins Propaganda beeinflussen“, stellt die britische Tageszeitung „The Telegraph“ zutreffend fest. Jetzt, „da Nigel Farage ein potenzieller Premierminister ist“, hätten dessen außenpolitische Ansichten deutlich größere Bedeutung. Russland werde immer versuchen, „die Wahrnehmung von außen zu manipulieren, indem es ausgeklügelte Geschichten erfindet, um die Aggression Wladimir Putins zu rechtfertigen.“ Das Problem sei, dass Farage seit langem dafür bekannt sei, „selbst auf die erfindungsreichsten Lügengeschichten des Kremls hereinzufallen.“ Ex-Premierminister Boris Johnson bezeichnet Farages Haltung gegenüber Russland als „äußerst gefährlich“. Reform UK sei eine Bedrohung für die nationale Sicherheit Großbritanniens, sagte Johnson Ende September.
Deutschlands AfD gleichauf mit der Union
Seit ihrem Amtsantritt im Mai hat die Regierungskoalition an Zustimmung in der Bevölkerung kontinuierlich verloren. Zwar bietet Union und SPD in der Außen- und Sicherheitspolitik ein halbwegs geschlossenes Erscheinungsbild. Doch innen- und sozialpolitisch driften die Koalitionäre in regelmäßigen Abständen und in aller Öffentlichkeit immer wieder auseinander. Sie scheinen bislang nicht in der Lage zu sein, aus dem abschreckenden Beispiel der ehemaligen Ampelregierung, die den permanenten Streit unter den drei Koalitionsparteien in der Endphase zum Markenzeichen erhoben hatte, diszipliniert die richtigen Schlüsse zu ziehen. Im jüngsten ARD-Deutschlandtrend von Anfang Oktober stellen die befragten Bundesbürger schwarz-rot ein schlechtes Zeugnis aus: Knapp 80 Prozent erklärten, mit der Arbeit der Regierung weniger und gar nicht zufrieden zu sein. Der vormalige Abstand der Unionsparteien CDU und CSU zur AfD ist zusammengeschmolzen auf Gleichstand. In anderen Umfrageerhebungen liegen die AfD bereits vor der Union.
Obgleich die nächsten Bundestagswahlen 2029 noch weit entfernt sind: Inzwischen rücken – wie in Großbritannien und Frankreich – die außenpolitischen Ansichten der in weiten Teilen gesichert rechtsextremen Alternative für Deutschland in den Vordergrund.
Wie die FAZ am Mittwochabend unter Berufung auf einen außen- und sicherheitspolitischen Antrag berichtet (externer Link, möglicherweise Bezahlinhalt), den die AfD-Bundestagsfraktion bereits beschlossen habe und in den kommenden Sitzungswochen ins Parlament eingebracht werden solle, verfolge die AfD eine Art Doppelstrategie: Für die Wählerschaft im Westen werde ein „Neubeginn in den deutsch-amerikanischen Beziehungen“ in Aussicht gestellt. Zudem gebe es zur Einbettung in die Nato „derzeit keine ernsthafte Alternative“, wie es in dem Antrag heiße.
An die Wählerschaft im Osten gerichtet werde versichert, dass die gesamte finanzielle und militärische Unterstützung Deutschlands für die Putin angegriffene Ukraine einzustellen sei – mit Ausnahme von humanitärer Hilfe. Die Gelder sollten so lange ausbleiben, bis die Ukraine sich bereit erkläre, an „ernsthaften Friedensverhandlungen“ teilzunehmen. Dieser Ausdruck gleicht weitgehend dem Sprachgebrauch des Kremls. Übersetzt heißt das, dass Kiew alle Forderungen Russlands zu akzeptieren hätte: Anerkennung der russisch besetzten Gebiete der Ukraine, Verzicht auf westliche Militärunterstützung, Schrumpfen der ukrainischen Streitkräfte als Minimalgröße und Verbot, sich jemals der Nato einzuschließen.