»Essen ist ein Thema, zu dem so ziemlich jeder etwas zu sagen hat.« So trivial dieser Satz klingen mag, so treffend ist er. Alina Bronsky beginnt damit ihr neuestes Buch Essen und unterstreicht gleichzeitig ihre eigene Aussage: Essen ist nicht nur Überlebensstrategie, sondern zeigt das menschliche Verhalten in seiner elementaren Ausdrucksform. Essen ist Hunger und Sättigung zugleich, Essen ist Liebe und Trennung, Essen ist Identität, Essen ist Vergangenheit, die nur noch spärlich rekonstruierbar ist, oder wie Bronsky schreibt, ein »vereinzelter Geschmacksmoment (…), bevor er wieder verblasst und nur ein Hauch des früheren Glücks zurückbleibt«.

So hat sich die deutsch-russische Schriftstellerin zur Aufgabe gemacht, einen Teil der Geschmacksmomente, die für die Biografie der Autorin stehen, literarisch einzufangen. Sie mischt die Ingredienzen ihrer Erinnerung zu wunderbaren Episoden, in Kurztexte verpackt, nie zu salzig, nie zu süß, sondern stets passend zu ihrem eigenen Empfinden. (»Ich esse für mein Leben gern mild schmeckende Dinge.«)

Zurückkatapultiert in ein früheres Ich

Das Resultat ist ein Text, der wie das von ihr beschriebene Kaffeegelee auf der Zunge schmilzt und mit dem sich Bron­sky in ein früheres Ich zurückkatapultiert, während »Glücksgefühle ob der Schönheit der Welt sie überfluteten«. Alina Bronsky kreiert damit für ihr Publikum eine kulinarische Welt, die sie zwischen Russland und Deutschland erlebt hat. Vor allem aber gibt sie ein Urteil ab, das mitunter so scharf ausfällt, als hätte man aus Versehen eine Chilischote verschluckt.

Der Verfasserin mehrerer Bücher, unter anderem Der Zopf meiner Großmutter (2019) und Pi mal Daumen (2024,) gelingt es, und das zeichnet die Autorin aus, den Leser oder die Leserin nicht in sentimentalem Kitsch zu ertränken. Sie verrennt sich ebenso wenig in der Vergangenheit und deren bitterer Süße, die mal klebrig wie Zuckerguss, mal fettig wie Bratöl von Frikadellen ist, wie sie auch osteuropäische Speisen nicht zu kulinarischer Allgemeingültigkeit verklärt.

Alina Bronsky kreiert für ihr Publikum eine kulinarische Welt, die sie zwischen Russland und Deutschland erlebt hat.

Nein, Bron­sky bereitet den Borschtsch, der sie zu einer erwachsenen Frau gemacht hat (»Bei der kulinarischen Reifeprüfung denke ich an etwas Großes und Mächtiges«) fast ohne Leidenschaft zu – und gesteht, sie habe das Kochen einzig der Erkenntnis zu verdanken, dass Kinder essen müssen.

Dennoch nimmt die Autorin ihr Lesepublikum liebevoll an die Hand. Sie belegt Brote mit Käse und Kochschinken und gibt dabei literarische Schreib(werkstatt-)tipps, die sie anhand der Napoleon-Torte durchdekliniert und deren Blätterteig sie mit den unzähligen Abgründen des Menschen um die Wette schichtet. Bronsky setzt ihre Worte so gezielt ein wie die Messerspitze Salz, die auch in ihrem Kaffee (sic!) nicht fehlen darf.

Essen kann auch schmerzen, nerven, ratlos zurücklassen

Natürlich kann Essen auch schmerzen, nerven, ratlos zurücklassen, weil man sich an einem neuen Ort (wie Alina Bronsky als Teenager einst in Deutschland) auch erst kulinarisch zurechtfinden muss. Grün is übrigens die Farbe der Soße, für die Bronsky Hessen so dankbar ist – dem Bundesland, in dem sie aufwuchs. Dieses Buch ist also auch ein Medikament. Nämlich für all jene Momente, wenn Essen nicht zwingend Nahrungszufuhr darstellt, sondern Teil einer alten Identität ausmacht, um eine neue zu finden.

Wer Stunden damit verbringt, auf Ins­tagram Kochvideos selbst ernannter Profi-Köchinnen und -Köche aus aller Welt zu schauen, und wer diese inszenierte Selbstbeweihräucherung nicht mehr erträgt (es gibt kaum ein Video, das nicht mit dem Kosten des Selbstgekochten und einem anschließenden »Hmm!« endet), dem sei dieses Buch ans Herz gelegt.

Alina Bron­sky bringt mit Essen etwas zustande, was keinem einzigen Möchtegernkoch auf Social Media gelingt: Sie kocht nicht nur Rezepte von früher nach, sondern flößt dem Publikum Geschmack von Alltag und Leben ein, mal ironisch, mal herzhaft lachend – aber immer schonungslos ehrlich. Bon Appétit!

Alina Bronsky: »Essen«. Hanser, Berlin 2025, 112 S., 2o €