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Als Fahrer geködert, als Frontsoldat verheizt: Russland scheint seine Verluste mit immer perfideren Rekrutierungs-Kampagnen ausgleichen zu müssen.
Moskau – „Mehrere Regionen haben in den letzten Tagen angekündigt, dass sie die Anmeldeboni sogar vervierfachen würden, um ihre Rekrutierungszahlen zu steigern“, schreiben Ivana Kottasová und Anna Chernova. Die CNN-Autorinnen berichten über die durch Wladimir Putin initiierten Anstrengungen, den Aderlass unter Russlands Männern durch den Ukraine-Krieg aufzufangen. Laut der Kiyv Post werbe Russland neuerdings in Kampagnen „für ,sichere‘ Jobs an der Front“.
Opfer von Putins Bauernfängerei? Russische Soldaten nehmen an einer Feier zum Tag der Panzerbesatzung im 212. Gardebezirks-Ausbildungszentrum des russischen östlichen Militärbezirks teil. Viele sind möglicherweise als „Fahrer“ angeworben worden und enden an der Front mit einer weit gefährlicheren Aufgabe (Symbolfoto). © IMAGO/Yevgeny Yepanchintsev
„Im Sommer 2025 wird Russland voraussichtlich die Marke von einer Million Opfern erreichen – ein erschreckender und grausiger Meilenstein“, schreiben Seth G. Jones und Riley McCabe. In einer Studie für den US-Thinktank „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS) von Juni 2025 halten die Autoren fest, dass Russland in der Ukraine nicht nur ungewöhnlich langsam vorrückt – zwischen 50 und etwas mehr als 100 Meter pro Tag – das sei weniger Raumgewinn als während einiger menschenverachtender Offensiven im Ersten Weltkrieg. Sie betonen darüber hinaus die außergewöhnlich hohen Verluste von Russlands Offensiven in der Ukraine.
Russlands horrende Verluste: „Ein Zeichen für Putins eklatante Missachtung seiner Soldaten“
„Russland hat in der Ukraine etwa fünfmal so viele Todesopfer zu beklagen wie in allen russischen und sowjetischen Kriegen zusammen zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der groß angelegten Invasion im Februar 2022“, schreiben sie und sehen das als „ein Zeichen für Putins eklatante Missachtung seiner Soldaten“, wie sie formulieren. Auf CNN klingen Russlands Offizielle indes ganz anders: Demnach habe Russlands Verteidigungsminister Andrej Belousow im August gegenüber hochrangigen Offiziellen erklärt, die Rekrutierung von Soldaten sei für das Militär prioritär, da Arbeitskräfte „der Schlüssel zur Unterstützung offensiver Operationen“ seien, wie ihn CNN zitiert. Darauf ziele die jetzige Rekrutierungs-Kampagne offensichtlich ab.
„Bewerber, die von der Aussicht auf einen sicheren Posten im Hinterland angelockt werden, unterschreiben zunächst einen Vertrag und erfahren erst später, welcher Einheit sie tatsächlich beitreten werden.“
Der Schwerpunkt läge auf „sicheren“ Funktionsaufgaben statt auf Verstärkungen für die Schützengräben, berichtet die Kiyv Post – beispielsweise würden Fahrer gesucht; verstärkt über Social Media. Allerdings sei das eine Falle – die angepriesenen Aufgaben würden generell als gefahrlos beworben, dienten tatsächlich aber als Köder, um Rekruten in Sicherheit zu wiegen, um sie dann doch wieder an die Front zu versetzen, berichtet die Kiyv Post. Als eine der Strategien zum Auffüllen seiner Reihen setzte Russland von Anfang an auf „Kontraktniki“, also Vertragssoldaten. Diese Soldaten haben einen anderen Status als Wehrpflichtige und stehen im Fokus von Russlands Bemühungen.
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„Anders als bei der Militärreform von 2008 zielt die Anwerbung von ,Kontraktniki‘ seit 2022 nicht mehr primär darauf, die Streitkräfte qualitativ zu professionalisieren. Stattdessen geht es darum, möglichst schnell viele Soldaten für die Front zu rekrutieren“, schreibt dazu Margarete Klein. Die Autorin des deutschen Thinktanks „Stiftung Wissenschaft und Politik“ spricht von einer verdeckten Mobilisierung mittels „Freiwilliger“. Ihr zufolge fuße diese Strategie auf dem Kalkül, dass der Entsatz der Verluste an der Front durch „verdeckte Mobilisierung“ weit weniger Proteste hervorrufe als eine offizielle Mobilisierung. „Schließlich handelt es sich formal um Freiwillige, auch wenn deren Rekrutierung nicht selten durch die Ausnutzung von Machtgefällen, durch Täuschung und Zwang geschieht“, schreibt Klein.
Ukraine: „Der Russe aus den Tiefen des Landes weiß offenbar wenig über das, was in der Welt geschieht“
Laut OpenMinds habe die Aggressivität, mit der Rekruten geworben würde, zugenommen in dem Maße, in dem die Zahl der Opfer gestiegen sei – OpenMinds entwickelt Technologien und Tools zur Bekämpfung von Propaganda und Desinformation und analysiert die in Publikumsmedien veröffentlichten Informationen. Der Nichtregierungsorganisation zufolge scheinen die Behörden aufgrund der Entwicklung an der Front in der Ukraine dazu gezwungen seien, zu unlauteren Mitteln zu greifen. „Fahrer“ scheint aktuell das „Buzzword“ für die russische Führung zu sein. OpenMinds behauptet in der Kiyv Post, allein im April 2025 hätte die Zahl der Angebote für Tätigkeiten als Fahrer die Gesamtzahl der Angebote für alle anderen spezialisierten Tätigkeiten weit überschritten.
„Regionale Medien berichteten im Juli 2025 unter Berufung auf einen örtlichen Militärkommissar, dass Fahrer im Kriegsgebiet der gefragteste Beruf sei“, so OpenMinds. Warum das scheinbar so einfach verfängt: „Russland beginnt eigentlich erst hinter dem Ural – in Städten, deren Namen Sie vermutlich noch nie gehört haben, mit Straßen, die bis heute nicht asphaltiert sind“, sagt Markus Reisner. Der Oberst des österreichischen Bundesheeres hat im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr eine Lagebeurteilung abgeben; die fiel desaströs aus – der Russe aus den Tiefen des Landes weiß offenbar wenig über das, was in der Welt geschieht, auch und vor allem in der Ukraine, so der Österreicher.
Putins Linie: „Russland behandelt seine Truppen wie den letzten Dreck – als Verbrauchsware Soldat“
„Dort sind 50.000 Euro mit einer Bonuszahlung von bis zu 16.000 Euro viel Geld – das Fünffache vom Durchschnittseinkommen. Und der Buryate als eine von 160 Ethnien in Russland weiß nicht, was ihn an der Front erwartet. Und wenn er dann dort ist, dann ist es zu spät. Und wenn der sich umdreht, dann steht dort wie vor 80 Jahren ein Kommissar und zeigt ihm den Weg an die Front.“ Reisner zufolge schiebe der Russe nach – bis zu 30.000 Mann pro Monat. „Die schaffen das; auch nicht unbegrenzt, aber vielleicht ein bisschen länger als die Ukraine.“
Das Menschenbild der russischen militärischen Führung pointiert Andreas Rüesch in der Neuen Zürcher Zeitung: „Russland behandelt seine Truppen wie den letzten Dreck – als Verbrauchsware Soldat.“ Das wiederum bringt den Verteidigern einen enormen psychologischen Schub, erklärt Reisner: „Bei der Motivation sind die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Vorteil, das hat der Verlauf des Kriegs gezeigt. Schließlich verteidigen die Männer und Frauen in der ukrainischen Armee Haus und Hof sowie das Leben ihrer Familien – sie wissen sehr genau, wofür sie kämpfen. Russlands Soldaten an vorderster Front können mit Wladimir Putins Kriegszielen dagegen wenig anfangen, sind sich Fachleute einhellig sicher.“
Russlands Bauernfängerei: „Ruhiger Dienst“, „Einfacher Dienst“ und „Keine Frontlinie“
Und diese Kriegsziele sind in weite Ferne gerückt – gemessen an den mehr als drei Jahren des Ukraine-Krieges in weitere Ferne als bisher: „Russlands langsame und begrenzte Vorstöße seit Januar 2024 sind am ehesten mit der Offensive der Ukraine im Sommer und Herbst 2023 vergleichbar, die mit einer Geschwindigkeit von lediglich 90 Metern pro Tag gegen schwer befestigte russische Stellungen vordringen konnte“, schreiben Jones und McCabe vom CSIS. Zumal Russland anstelle raumgreifender Panzerangriffe übergegangen ist zu Infanterie-Vorstößen mittels kleiner Trupps – die eben auch personalintensiver sind, weil sie höhere Verluste nach sich ziehen. Prinzipiell steht der russische Soldat also auf verlorenem Posten.
Die Hartleibigkeit des ukrainischen Widerstands habe „das globale Bild der russischen Militärstärke beschädigt“, schreibt die New York Times unter Berufung auf Aussagen westlicher Analysten und Militärs. Insofern muss die russische Führung auch nach innen einen anderen Zungenschlag an den Tag legen. Aufrufe zur freiwilligen Meldung enthielten mittlerweile Versprechungen wie „Keine Sturmeinheiten“, „Rückwärtige Einheiten“, „Ruhiger Dienst“, „Einfacher Dienst“ und „Keine Frontlinie“, so die Kiyv Post. Mit dieser Aussicht würden Interessenten in die „Militärischen Personalagenturen“ gelockt – in Erwartung eines lohnenden Geschäfts für vermeintlich wenig lebensbedrohliche militärische Aufgaben. Reine Bauernfängerei, wie OpenMinds in der Kiyv Post unterstreicht: „Bewerber, die von der Aussicht auf einen sicheren Posten im Hinterland angelockt werden, unterschreiben zunächst einen Vertrag und erfahren erst später, welcher Einheit sie tatsächlich beitreten werden.“