Russische Drohne Geran (Shahed) auf einer Straße in Moskau vor der Parade zum Tag des Sieges

(Bild: Oleg Elkov / Shutterstock.com)

Russische Geran-Drohnen jagen nun Züge und greifen direkt an der Front an. Die Technologie dahinter verändert den Kriegsverlauf.

In der Nacht zum Mittwoch rasten Lichtblitze durch die Dunkelheit nahe der Stadt Bobrovytsya im Gebiet Tschernihiw, etwa 160 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Zunächst traf es die Lokomotive, dann mehrere Waggons.

Was auf den ersten Blick wie ein weiterer Angriff auf die ukrainische Infrastruktur aussah, deutet nach Angaben ukrainischer Militärexperten auf einen bedeutenden technologischen Sprung in der russischen Drohnenkriegsführung hin: Erstmals sollen Geran-2-Drohnen, die russische Variante der iranischen Shahed-136, bewegliche Ziele angegriffen haben.

The War Zone schreibt von Gerans, die über Nachtsichtkameras gesteuert worden seien. Sollten sich diese Berichte bestätigen, würde dies eine fundamentale Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten dieser Waffen bedeuten. Bislang galten Standard-Geran-Drohnen als unfähig, dynamische Ziele anzugreifen – sie konnten lediglich vorprogrammierte, statische Koordinaten ansteuern.

Angriffe auf Bahninfrastruktur

Der Angriff bei Bobrovytsya ist kein Einzelfall. Nach Angaben des Chefs der ukrainischen Eisenbahn, Oleksandr Pertsovsky, hat Russland seine Luftschläge gegen das Bahnnetz seit August massiv verstärkt. Wie Eurasian Times berichtet, bezifferte Pertsovsky die Zahl auf „40 größere Angriffe“ auf die Bahninfrastruktur seit August – praktisch jeden zweiten Tag werde das Netz attackiert.

Früher hat Russland anscheinend weder über ausreichende Ressourcen verfügt, um eine einzelne Kampfdrohne wie eine Geran auf die Jagd nach einer Lokomotive zu schicken, noch hatte es die technische Voraussetzung dazu. Jetzt ist Moskau in der Lage, Gerans gegen einzelne Lokomotiven einzusetzen, statt sie nur für strategische Ziele zu reservieren.

Neue Einsatzgebiete: Frontlinie statt nur Hinterland

Russland setzt Geran-Drohnen zunehmend direkt an der Frontlinie ein, wie der Kyiv Independent bestätigt. Bislang wurden die Langstreckendrohnen hauptsächlich für nächtliche Angriffe tief im Hinterland eingesetzt.

Von mehreren Frontabschnitten wird von Geran-Angriffen auf militärische Ziele berichtet: Stellungen in umkämpften Dörfern, Logistik und Truppensammlungen zehn bis 15 Kilometer hinter der Front, sowie gezielt Drohnenpiloten und elektronische Kriegsführungsstandorte in der zweiten und dritten Verteidigungslinie.

Nach Angaben des Kyiv Independent baut Russland zusätzliche Abschussbasen aus, etwa am Flughafen Luhansk. Die Gerans mit rund 90 Kilogramm Sprengstoff seien zwar weniger zerstörerisch als die 200 bis 500 Kilogramm schweren KABs, doch ihre Präzision könne ähnliche Ergebnisse erzielen.

Ein bedeutsamer Aspekt bleibt dabei möglicherweise unberücksichtigt: Die tatsächlich eingesetzte Zahl von Geran-Drohnen könnte deutlich über den offiziellen ukrainischen Angaben liegen; offizielle Statistiken dokumentieren primär Angriffe im Hinterland, Einsätze an der Front sind womöglich untererfasst.

Technische Modernisierung der Geran-2

Die Grundlage für die erweiterten Einsatzmöglichkeiten bildet eine technologische Aufrüstung seit dem Sommer. Im Zentrum steht die Integration von Mesh-Netzwerk-Technologie, die nach Angaben von Defense Express aus Analysen abgeschossener Drohnenwracks hervorgeht.

Seit September stattet Russland Geran-2-Drohnen serienmäßig mit chinesischen Mesh-Modems vom Typ XK-F358 und Frontkameras aus. Die Mesh-Technologie ermöglicht ein dynamisches Netzwerk, in dem jeder Knotenpunkt als Relais fungiert und so Kommunikation und Reichweite erweitert. Dies macht Angriffe auf bewegliche Ziele erst möglich.

Unklar bleibt, wie die Daten übertragen werden – denkbar sind Boden-Relaisstationen oder luftgestützte Drohnen-Ketten. Die Technologie eröffnet Fernsteuerung über große Distanzen oder KI-gestützte Schwarm-Autonomie, bei der Drohnen eigenständig und selbstkoordiniert nach Zielen suchen.

Parallel dazu wurden nach Angaben von Militarnyi neue Gefechtsköpfe mit Airburst-Fähigkeit identifiziert. Lidar-Sensoren ermöglichen Detonation in vorbestimmter Höhe für optimierte Splitterwirkung. Lidar steht für Light Detection and Ranging. Vereinfacht gesagt ist es eine Art „Laser-Radar“: Ein Sensor sendet Laserimpulse aus und misst, wie lange das reflektierte Licht zurück benötigt. So entsteht ein extrem genaues 3D-Modell der Umgebung.

Taktischer Strategiewechsel seit Juni 2025

Seit Juni hat Russland seine Angriffsstrategie fundamental geändert. Daten des US-Rüstungsindustrie-Lobbyverbandes „Institute for the Study of War“ zeigen ein deutliches Muster: Während bis Mai die Zahl der eingesetzten Drohnen und Raketen täglich zwischen 50 und 200 schwankte, etablierte sich ab Juni eine neue Taktik.

Russland hält seither ein kontinuierliches Grundrauschen von 50 bis 100 Geran-Drohnen pro Tag aufrecht. Etwa einmal wöchentlich folgen dann massive Angriffswellen mit über 500, teilweise mehr als 800 kombinierten Angriffen aus Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern. Besonders markante Spitzen zeigten sich im Juli während des Alaska-Gipfels mit rund 750 Angriffen sowie mehrfach im September und Oktober mit über 800 Einsätzen.

Diese Kombination aus ständiger Belastung und periodischen Überwältigungsangriffen stellt eine fundamental andere Taktik dar als in den Monaten zuvor. Für den September meldete der Kyiv Independent insgesamt fast 6.900 eingesetzte Drohnen, davon über 3.600 Shaheds. Seit Kriegsbeginn 2022 seien insgesamt fast 50.000 Shaheds auf die Ukraine abgefeuert worden.

Kosten-Nutzen-Rechnung

Dabei kostet eine Geran-2-Drohne zwischen 20.000 und 50.000 Dollar, eine KAB-Gleitbombe etwa 25.000 Dollar. Auf den ersten Blick erscheinen beide Waffensysteme vergleichbar günstig. Doch die KAB benötigt eine teure Trägerplattform – einen Kampfjet – während die Geran von einfachen mobilen Bodenabschussrampen startet.

Auf der Gegenseite gestaltet sich die Abwehr kostspielig. Defense Express beziffert die Gesamtkosten eines Abfangsystems am Beispiel der Hunter-Abfangdrohne auf rund 35.500 Dollar.

Noch drastischer wird das Missverhältnis beim Einsatz konventioneller Luftabwehrraketen. Die NATO musste diese schmerzhafte Erfahrung machen, als teure Boden-Luft-Raketen gegen billige russische Täuschkörper über Polen eingesetzt wurden. Das Kostenverhältnis erreichte teilweise 245 zu eins.

Fazit

Autonome oder teilautonome Geran-Drohnen mit bis zu 100 Kilogramm Sprengkopf, die Jagd auf Züge machen, könnten die Verwundbarkeit der ukrainischen Eisenbahnlogistik deutlich erhöhen – mit potenziell gravierenden Folgen für Nachschub und Transporte.

Die Bahn ist nicht nur militärisch zentral, sondern angesichts geschlossener Flughäfen auch die einzige internationale Transportverbindung des Landes. Auch Schieneninfrastruktur und Brücken werden damit zu kritischen Schwachstellen.

Sollte Russland die Geran-Produktion weiter steigern können, wären auch andere hochwertige Ziele bedroht, für die bislang noch teure Iskander-Raketen eingesetzt werden: Himars-Systeme, Truppenkonzentrationen weit im Hinterland oder Kommandoposten. Auch ukrainische Luftabwehrstellungen könnten zunehmend ins Visier von Geran-Schwärmen geraten.

Ferner eröffnen sich neue Angriffsziele: Küsten- und Flussschifffahrt auf Dnipro und Dnister könnten mit den nun präziseren und möglicherweise autonomen Drohnen effektiv bekämpft werden. Was einst als strategische Waffe für Präzisionsangriffe auf Militärziele konzipiert war, entwickelt sich zu einer vielseitigen Waffenplattform, die die ukrainische Logistik, Mobilität und Verteidigung in ihrer Tiefe bedroht.