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Autorin Maja Lunde im März 2023 in Stockholm„Wir müssen Kindern wieder die Möglichkeit geben, etwas aus sich selbst heraus zu schaffen“, sagt Maja Lunde. © IMAGO/Pontus Lundahl / TT

Maja Lunde hat ein Sachbuch über die Gefahren der Digitalisierung für Kinder
und Jugendliche geschrieben. Ein Gespräch über Einsamkeit vorm Bildschirm und warum Politik und Gesellschaft die Macht der Tech-Giganten begrenzen müssen
Von Jutta Martha Beiner

Maja Lundes Romane sind weltweit in 40 Sprachen übersetzt worden. In ihrem Sachbuch „Rettet die Kindheit“, das jetzt auch auf Deutsch erscheint, macht sich die Bestseller-Autorin und Medienwissenschaftlerin dafür stark, Kinder und Jugendliche vor digitalen Gefahren zu schützen. Norwegen zählt weltweit zu den Vorreitern, wenn es um Digitalisierung in Schulen geht, aber auch dort schlagen Fachleute Alarm: Bei Minderjährigen schadet zu viel Zeit im Internet massiv der Gesundheit. Davon ist auch Maja Lunde, selbst Mutter von drei Söhnen, überzeugt.

Frau Lunde, woher kam das Bedürfnis, sich mit einem Buch in die Debatte um digitale Bildung einzumischen?

Das hatte mehrere Gründe. Als Mutter und Medienwissenschaftlerin wurde mir zunehmend klar, dass die Massenmedien viel zu viel Raum einnehmen, nicht nur bei Kindern. Norwegen gehört zu den führenden Ländern, wenn es um die Digitalisierung von Schulen und Bildung geht. Das Land hat erhebliche Anstrengungen unternommen, um digitale Technologien in den Bildungsprozess zu integrieren. Als sich abzeichnete, wie das unsere Kinder negativ beeinflusst, habe ich ein Netzwerk zu ihrem Schutz gegründet. Als politische Aktivistin setze ich mich für mehr Lebensqualität in der Kindheit ein.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Ich beobachte, dass die digitale Präsenz enorm viel Zeit stiehlt. Unsere Kinder schaffen es nicht mehr, sich dem zu widmen, was essenziell für sie ist: Schlaf oder körperliche Aktivität. Auch das Zusammensein mit anderen als soziales Training in der Gemeinschaft bleibt auf der Strecke. Das gilt auch für das Träumen und die Welt des Spiels. Spiel ist die wichtigste Ausdrucksform für Jungen und Mädchen. Durch die vielen Stunden im Internet bleibt ihnen keine Zeit mehr dazu. Wir nehmen unseren Kindern das Spielen, und stattdessen geben wir Technologie-Giganten Zugang zu ihnen. Wir lassen es zu, dass sie in den Griff wirtschaftlicher Interessen genommen und manipuliert werden. Natürlich ist nicht alles negativ, was Kinder am Bildschirm erleben können, zu viel Bildschirmzeit aber ist schlecht. Das Problem kann nur in Gesellschaft und Politik, gemeinsam durch kindgerechte Rahmenbedingungen, gelöst werden. Die Verantwortung darf nicht beim Einzelnen liegen.

Sie stehen mit vielen Eltern im Austausch: Wie sehen diese die hohe Aktivität ihrer Kleinen im digitalen Raum?

Die schädliche Wirkung dieser Aktivität ist nicht mehr zu übersehen. Viele Eltern, mit denen ich spreche, fühlen sich hilflos. Die Hälfte der Neunjährigen in Norwegen hat Zugang zu sozialen Medien – nicht, weil die Eltern das so wünschen. Tatsächlich fühlen sich die Eltern unter Druck gesetzt, wenn alle anderen ein Smartphone mit Internet-Zugang haben. Dein Kind soll dazugehören und nicht als Außenseiter aufwachsen. Daher brauchen Eltern Unterstützung von Politik und Schulleitung. Sie müssen darin bestärkt werden, Grenzen zu setzen und länger zu warten, bis sie ihren Söhnen und Töchtern ein Smartphone anschaffen. Und nicht zuletzt sollten sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen und das Handy öfter beiseitelegen. Gemeinsam müssen wir unser Verhältnis zu Technologie überdenken: Sie soll uns dienen und gut für uns sein – und nicht destruktiv.

Wie steht es in Ihrer Familie um die Balance zwischen Online-Zeit und analogem Leben?

Der älteste, 21 Jahre alt, hatte eine Kindheit, die meiner eigenen ähnelte, während der jüngste in einer weitaus stärker bildschirmgeprägten Kinderkultur aufgewachsen ist. Ich sehe, dass er dabei etwas verloren hat. Viele Kinder in Norwegen haben bereits ab der ersten Klasse ein Tablet bekommen, aber zum Glück bekamen meine Kinder erst später im Schulverlauf einen Schulcomputer. Leider wurden die PCs mit nach Hause geschickt, wo sie schnell für alles Mögliche außer für die Schule verwendet werden. Das ist in vielen Familien ein Problem. Aus der Forschung wissen wir, dass die digitale Schule dazu führt, dass die Schüler mehr allein arbeiten – das ist einsamer. Manche der digitalen Schulwerkzeuge können auch zum Mobbing genutzt werden, etwa in Gruppen-Chats. Außerdem sind viel zu wenige Seiten auf den Geräten gesperrt. Auch schädliche Inhalte werden nicht ausreichend gefiltert. Die Digitalisierung der Schule ist viel zu schnell vorangeschritten, ohne grundlegende Dinge wie Filter sicherzustellen – stattdessen hat man sechsjährigen Kindern offene Tablets gegeben, mit Zugang zu allem, von Youtube bis Pornhub. Schulkinder sind heute häufiger zu Hause und allein. Sie haben Angst, auf andere zuzugehen, aus Furcht, abgelehnt zu werden – je weniger soziale Übung sie bekommen, desto schlimmer wird es. Sie sehen auch Gewalt im Internet, mit der sie nicht umgehen können.

Was kann man denn in Ihren Augen überhaupt noch gegen diese Entwicklung tun?

Die Politik sollte sich mehr einmischen und für mehr Schutz sorgen, etwa durch von den Schulen angepassten Filtern, die den Zugang zu kinderschädlichen Inhalten verhindern. Technisch ist das längst möglich. Zudem müssen wir den Kindern wieder die Möglichkeit geben mehr zu spielen, und etwas aus sich selbst heraus zu schaffen. Ein Ziel ist es, dass sie nicht mehr so oft allein in ihrem Zimmer vor einem Schirm sitzen. Es müssen von der Politik deutlichere Grenzen gesetzt und auch Empfehlungen für den Umgang von Kindern im Netz vermittelt werden. Das hilft den Familien.

Studien belegen seit langem die Abhängigkeit, die durch zu häufigen Zugang zu sozialen Medien und Internet entsteht. Wie sehen Sie das?

Das ist höchst bedenklich. Der Umgang mit dem Smartphone erfordert von jedem von uns ständig Willensstärke. Wenn wir Erwachsenen das kaum schaffen, wie soll es den Schülerinnen und Schülern gelingen? Wir suchen ständig nach diesem Dopamin-Kick im Gehirn. In den sozialen Medien sind wir fast besessen davon, Anerkennung von anderen zu erhalten. So funktioniert Abhängigkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das kindliche Gehirn noch in Entwicklung befindet. Disziplin und Impulskontrolle müssen erst erlernt werden. Soziale Medien erschweren das, weil sie uns manipulieren und Abhängigkeiten schaffen.

Was haben Sie inzwischen erreicht?

Es gibt in Norwegen sehr viele, die mir danken. Gerade erst haben die norwegischen Gesundheitsbehörden neue Empfehlungen herausgegeben, wie viel Zeit Kinder maximal, je nach Alter, vor dem Schirm verbringen sollen. Doch das ist viel zu wenig. Ich sehe das als eine vertane Chance. Denn auf die Qualität des Inhalts, das, was die Kinder zu sehen bekommen, wird gar nicht eingegangen – ob schädlich oder pädagogisch wertvoll bleibt undifferenziert. Dabei geht es doch darum, unsere Jüngsten aus dem Griff der Tech-Giganten zu befreien.

Und welche Rolle sollen Ihrer Ansicht nach die Schulen spielen, wenn es um einen gesünderen Umgang mit dem Internet geht?

Norwegen ist das einzige Land in der digitalen Kompetenz grundlegend im Lehrplan verankert ist. Doch die Lehrkräfte sind nicht genügend dazu ausgebildet. Es reicht nicht, nur einen internetgängigen PC ausgeteilt zu kommen, um kritisch damit umgehen zu können. Technologie sollte ein eigenes Unterrichtsfach werden, das kann nicht einfach dem Mathe-Lehrer zugemutet werden. Soziale Kompetenzen zu lehren, sollte ebenso auf dem Stundenplan verankert sein. Das Wichtigste ist es, den Kindern soziale Zusammenhänge zu ermöglichen, wo sie nicht zuletzt ihre Regeln auch selbst aushandeln, um das zu üben. Das ist es, was sie am meisten brauchen. Außerdem müssen wir auch Langeweile wieder zulassen. Daraus können die großartigsten Dinge entstehen.

Zur Person

Maja Lunde, 50, hat Literatur, Psychologie und Medienwissenschaften studiert. Nach dem Studium war sie zunächst vor allem als Drehbuchautorin tätig und schrieb Kinderbücher. 2015 erschien „Die Geschichte der Bienen“, mit dem sie auch international bekannt wurde. Das Buch ist das erste von insgesamt vier Bänden, in deren Geschichten sie Umweltthemen mit Geschichten von Menschen verbindet. Zuletzt erschien „Der Traum von einem Baum“.

Ihr neues Buch „Rettet die Kindheit“ ist dieser Tage bei Penguin erschienen. boh