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Seite 1In der TikTok-Schlacht
Seite 2″TikTok Time Bomb“ wurde von der Gegenwart überrollt
Ein
Buch über TikTok, kann das gut gehen? TikTok ist die schnellste App der Welt: Man
loggt sich ein und kriegt unmittelbar die Synapsen durchspült mit einer Flut
von Kurzvideos, die man mit Daumenbewegungen auf- und abwärts navigieren kann,
wie ein kleiner Gondoliere auf dem Content-Canale-Grande. Gleichzeitig ist die
Plattform zum Herzstück einer geopolitischen Kabbelei zwischen den USA und
China geworden, mit regelmäßigen Updates zu Drohungen, Kaufangeboten und Deals.
Wie soll ein Buch da mithalten? Die publizistischen Mühlen des Sachbuchmarktes
mahlen langsam, es muss überlegt, recherchiert, geschrieben, korrigiert,
gedruckt werden, bevor das Ergebnis dann, Monate oder Jahre nach der
ursprünglichen Idee, in den Schaufenstern zum Verkauf liegt.
Emily Baker-White hat es dennoch probiert. Und wer, wenn nicht sie? Die Investigativreporterin und Tech-Journalistin
arbeitet bei Forbes, früher bei BuzzFeed News. Ihre
Berichterstattung über TikTok ist preisgekrönt und brachte das Unternehmen einmal
sogar so sehr ins Schwitzen, dass man sie dort eine Weile überwachen ließ. Und
so ist ihr Buch TikTok Time Bomb das, was man erwartet: die unglaublich
detaillierte Geschichte einer der größten und einflussreichsten Apps der Welt –
rund 1,6 Milliarden Nutzer verbringen täglich im Schnitt eine Stunde auf ihr.
Minutiös und umfassend hat die Autorin die Praktiken und (un)politischen
Ausrichtungen der App recherchiert.
Sie
verfolgt die Gründung des TikTok-Mutterkonzerns ByteDance durch den Unternehmer
Zhang Yiming, den seit 2012 immer autoritäreren Kurs der Kommunistischen Partei
Chinas in Bezug auf freie Rede und die landeseigene Tech-Branche sowie die
daraus entstehenden Spannungen zwischen den chinesischen und den
US-amerikanischen ByteDance/TikTok-Teams. Der kühle, analytische Ton
Baker-Whites hat zwar gelegentlich den Charme eines Wikipediaartikels,
konterkariert jedoch auf effektive Weise das Hyperventilieren US-amerikanischer
(und teils auch europäischer) Politiker, die vor einer algorithmischen Psychowaffe
made in China warnen, die marxistisch-leninistische Propaganda in die
Kinderzimmer des Westens pumpt.
© ZEIT ONLINE
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Das
Bild, das sich in TikTok Time Bomb auf fast 400 Seiten abzeichnet, ist das
Bild eines ruchlos und clever agierenden Konzerns mit dem Ziel maximaler
Expansion – ein stinknormaler Tech-Gigant also. Die von den Nutzern abgesaugten
Datenmengen würden Orwell weinen lassen, wie üblich. Die Aggressivität, mit der
man junge User an sich zu binden sucht, ist besorgniserregend, wie üblich. Und
die politische Flexibilität, mit der sich die App jedem Land und dessen Regime,
ob autoritär oder demokratisch, anpasst, zeugt weniger von einem trojanischen
Pferd sozialistischer Ideologie als vom knallharten Kulturrelativismus des
Kapitals.
In
Zeiten, in denen sämtliche Tech-CEOs in den USA Trumps Ring küssen, Apple Apps
aus seinem App Store entfernt, die der Regierung nicht passen und Meta Contentmoderation
auf Facebook und Instagram zurückfährt, fällt es zunehmend schwerer, große
Unterschiede zu den diversen Kompromissen von TikTok in Saudi-Arabien oder
China zu erkennen. Natürlich ist das Regime in diesem Fall Peking und nicht
Washington. Baker-White erinnert jedoch daran, dass Mark Zuckerberg einst im
Versuch, den chinesischen Markt für sich zu erschließen, Xi Jinping anbot, den
Namen für seinen noch ungeborenen Sohn auszuwählen. Danach scheint alles
Weitere bergabwärts zu rasen.
TikTok
Time Bomb hat also zweifellos
das Zeug, zum Nachschlagewerk für die TikTok-Historie zu werden – zumindest
bis Anfang 2025.