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  1. Seite 1Schmeckt nach Schuhsohle, aber es macht satt


  2. Seite 2Ein Gedicht als Trostpflaster

Alle noch ganz beseelt vom neuen Frankfurter Tatort vom vergangenen Sonntag, der auch in unserer beschaulichen Runde hier zu seltener, einhelliger Begeisterung geführt hat. Das aktuelle Abenteuer aus Dresden namens Siebenschläfer (MDR-Redaktion: Sven Döbler) kommt dagegen leider als der Kater daher, den man nach der ganzen Feierlaune bekommt. Wenn Dunkelheit in Frankfurt am Main gezeigt hat, dass es möglich ist, einen originellen ARD-Sonntagabendkrimi zu drehen, der zugleich spannend und berührend ist, politisch und präzise, dann muss man bei diesem Dresdner Tatort die Frage von Revierleiter Schnabel (Martin Brambach) aufwerfen: „Was ist da schiefgelaufen?“

Die Spurensuche beginnt im titelgebenden Kinder- und Jugendheim Siebenschläfer. Aus dem sind die Teenager Lilly-Marie Reuter (gerade auch in der nicht so aufregenden deutschen Euphoria-Adaption mit von der Partie: Dilara Aylin Ziem) und Pascal „Der Name ist Programm“ Schadt (Florian Geißelmann) ausgebüxt, damit Lilly in der ersten Nacht in einem pittoresken See ertrinken kann und der Schadt-Pascal als erster Verdächtiger gesucht wird.

Während im ersten Fall nach dem Abgang von Karin Hanczewskis Kommissarin Gorniak das vorläufige Ermittlungsduo Winkler (Cornelia Gröschel) und Schnabel an der Klärung der Todesumstände arbeitet, die sich am Ende als selbst verschuldeter Unfall herausstellen, wird der Jugendamtsleiter Torsten Hess (Peter Moltzen) getötet und der Psychiater Dr. Lukas Brückner (Hanno Koffler) bedroht. Von Lucy Wiegand (Sinje Irslinger), der älteren Halbschwester von Lilly, die Rache nimmt an den Leuten, die sie für das Elend Lillys verantwortlich macht. Diese wurde in das Heim einquartiert, obwohl die Mutter (Milena Dreißig) nicht so defizitär war, wie das in der Begründung klang. Außerdem – das soll der gesellschaftskritische Part dieser Tatort-Folge sein – werden die Schutzbefohlenen in der Einrichtung mit Medikamenten ruhiggestellt, die Brückner verschreibt, weil Mangel an Erziehungspersonal herrscht.

"Tatort" Dresden: Matthias Dell schreibt seit 2010 wöchentlich über "Tatort" und "Polizeiruf 110". Auf ZEIT ONLINE seit 2016 in der Kolumne "Der Obduktionsbericht".
Matthias Dell

schreibt seit 2010 wöchentlich über Tatort und Polizeiruf 110. Auf zeit.de seit 2016 in der Kolumne Der Obduktionsbericht.

Diese Idee aus dem Drehbuch von Silke Zertz und Frauke Hunfeld hätte durchaus Potenzial – für eine bittere Komödie oder einen dystopischen Horror-Schocker. In der biederen Fernsehfilm-Realität von Siebenschläfer, die irgendwas mit dem echten Leben zu tun haben will, wirkt der Einfall deplatziert bis grotesk. Das Skandalös-Invasive an so einer Form der Ruhigstellung hat in der Routine, mit der hier Plot durchgearbeitet wird, keinen Platz.

In der Inszenierung von Tatort-Regie-Debütant Thomas Sieben sind die sedierten Jugendlichen im Heim unscheinbar und ruhig. Was aber so unscheinbar und ruhig entworfen ist, dass sich kein Aha-Effekt bei der Betrachterin einstellt, als Schnabel das irgendwann plötzlich auffällt wie ein schwer zu knackendes Rätsel. Dabei könnte doch Spannung entstehen, wenn in diesem Moment ein möglicher Wissensvorsprung des Publikums mit der Erkenntnis des Kommissars zusammenfiele – ein Kribbeln, das Hitchcock als suspense bekannt gemacht hat.