Paulina ist erst neun Jahre alt – doch das kleine Mädchen aus der Ukraine hat schon viel durchgemacht.
Stefan von Kempis – Ivano-Frankivsk und Vorzel (Ukraine)
„Sie kommt aus Mariupol und hat leider die russische Invasion miterlebt. Dann floh sie mit ihren Eltern aus der Stadt; dabei schützten ihre Eltern sie buchstäblich mit ihren eigenen Körpern, da sie während der Flucht unter Beschuss standen.“ Paulina bekam Asthmaanfälle: eine Reaktion auf den Stress, die Gefahr.
In der Stadt Ivano-Frankivsk im ruhigeren Westen der Ukraine brachten ihre Eltern sie dann zur Behandlung bei der Psychologin Lesia Yaruchyk. Und die erzählt: „Dieses Mädchen hat im ersten Stock unseres Gebäudes einen sicheren Ort für sich und andere Kinder eingerichtet, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie sie. Zu Beginn der Invasion kamen fast fünfzig Kinder hierher, um Hilfe zu suchen – Kinder, die die Erfahrung machen mussten, aus ihrer Heimatstadt zu fliehen. Paulina sprach gut auf die Therapiesitzungen an, sie begann Freundschaften zu schließen.“
Die Kinderpsychologin Lesia Yaruchyk
Die Angst als ständiger Begleiter
Wer Lesia Yaruchyk in ihrem Büro in Ivano-Frankivsk besucht, lernt viel über die Kinder des Kriegs. Kinder, deren Leben von dem russischen Angriff auf die Ukraine gezeichnet sind. „Am häufigsten sind Angstprobleme. Ängste und Befürchtungen. Da der Krieg allen Menschen das grundlegende Gefühl der Sicherheit nimmt, leiden Kinder am meisten, weil sie weniger Lebenserfahrung haben, um mit den Problemen umzugehen. Der Alarm wegen Luftangriffen, der in der Stadt recht häufig vorkommt, beeinflusst ihr Wohlbefinden. Darum besteht die Priorität bei den Therapiesitzungen darin, diesen Kindern das Gefühl der grundlegenden Sicherheit wiederzugeben.“
Kinder, die Panzer malen
Zur Therapie gehören Spielen, Basteln, Musikmachen. Die Kleinen malen häufig Panzer. Oder Raketen. Oder Häuser – weil sie von Sicherheit träumen. „Im Krieg stehen wir ständig unter Anspannung und haben das Gefühl, dass wir uns schützen müssen. Das sind natürlich keine normalen Bedingungen für das menschliche Wohlbefinden.“ Doch wie Heranwachsende auf die Herausforderung reagieren, ist ganz unterschiedlich, sagt Yaruchyk. Ganz individuell.
„Manche Kinder werden sehr still; sie ziehen sich zurück. Andere Kinder können aggressiv werden, insbesondere wenn es Situationen gibt, die solche Gefühle in ihnen hervorrufen können. Wieder andere flüchten sich ins Internet und verlieren sich dort, sind für ihre Eltern fast nicht mehr erreichbar.“ Was in einer solchen Lage hilft? Regelmäßigkeit. Das Aufbauen von Routinen. „Unsere Sitzungen zum Beispiel finden regelmäßig an einem bestimmten Tag statt, beginnen und enden zu einer bestimmten Zeit. Und das vermittelt ein Gefühl von Normalität, von Sicherheit. Weil das Gehirn sich sagt: Wenn etwas regelmäßig stattfindet, dann ist es in Ordnung.“
Was hilft? Der Morgenkaffee
Übrigens ist es für ein Kind auch mitten im Krieg möglich, emotional gefestigt aufzuwachsen. Nicht alle seien traumatisiert. „Viele machen tatsächlich großartige Erfahrungen in Freundschaft und gesunden Beziehungen. Die Tatsache, dass sie in einem Geiste des Patriotismus erzogen werden, ermöglicht es vielen, sich als Ukrainer und als starke Persönlichkeiten zu identifizieren.“
Und wie geht Lesia Yaruchyk selbst mit dem Krieg um, wie wird die Psychologin selbst fertig mit all den Problemen, die in ihrer Sprechstunde auf sie einstürzen? Gute Frage, sagt sie. Denn es sei schon so, dass der Krieg wirklich jeden im Land treffe und erreiche. „Man spürt natürlich Erschöpfung. Und es gibt keinen Grund, das zu leugnen; es ist ganz normal, dass man müde wird unter solchen Umständen.“ Sie selbst setze darauf, sich an „grundlegenden“, ganz einfachen Dingen ganz bewusst zu freuen, um ein Gegengewicht zum Schrecken rundum zu schaffen.
Im Büro der Psychologin
„Grundlegende Dinge, die helfen, sich zu erden – zum Beispiel der Morgenkaffee. Oder auf den Balkon gehen und einfach lauschen, wie die Vögel in der Frühe singen. Oder im Garten arbeiten, mit den Fingern in der Erde. Oder sich mit der Familie einen Film anschauen… All diese Dinge schaffen ein Gefühl der Normalität. Sie stellen den Eindruck der Sicherheit wieder her.“
Vorzel: Als die Russen kamen
Szenenwechsel: Jetzt sind wir in Vorzel, einem Vorort der Hauptstadt Kyiv. Eine großzügige, parkähnliche Anlage beherbergt ein Waisenhaus. Vor drei Jahren, während des russischen Vormarschs auf Kyiv, rollten hier die Panzer vor.
Vorzel: Die Direktorin
„Es waren sehr schwierige Tage: Die Russen zerstörten alles, was Sie jetzt hier wiederaufgebaut sehen“, erzählt die Direktorin Tatuada Lynar. „Es gab nichts von dem, was Sie heute sehen, alles war zerstört, sogar der kleine Sportplatz, alles war dem Erdboden gleichgemacht.“ Die Kinder hatte man noch rechtzeitig in Richtung Borodyanka evakuieren können.
„Aber während der Besatzung waren viele Menschen, viele Zivilisten, hiergeblieben. Hier wurden einige meiner Mitarbeiter getötet, die trotz der Besatzung geblieben waren. Hier lagen Leichen auf der Straße. Das war keine Inszenierung, wie die russischen Medien behaupteten, sondern das war die Realität… Und für uns war es ein großer Schock, als die Anlage zurückerobert wurde. Es war ein großer Schock zu sehen, was die Russen in einer Anlage angerichtet hatten, die doch für Kinder bestimmt ist.“
„Es gibt Kinder, die, wenn sie in unsere Einrichtung kommen, aggressiv auf Psychologen und Ärzte reagieren“
Der Groß-Hospitalier des Malteserordens, Josef D. Blotz, hat letzte Woche die Ukraine besucht. Dabei informierte sich der frühere Generalmajor der deutschen Bundeswehr über …
Tatuada Lynar, eine resolute Frau mit rotgefärbten Haaren, ist von Haus aus Ärztin. In der pädagogischen Arbeit heißt ihr Ansatz: Liebe und Geduld mit diesen Waisenkindern, die oft Schweres durchgemacht haben; nicht wenige haben mit eigenen Augen ansehen müssen, wie ihre Eltern ums Leben kamen. „Es gibt Kinder, die, wenn sie in unsere Einrichtung kommen, aggressiv auf Psychologen und Ärzte reagieren; darum müssen wir jeden Fall einzeln betrachten und Geduld haben und diesen Kindern Zeit geben. Bei der Einstellung meiner Mitarbeiter zählt für mich, noch vor der Beurteilung ihrer Qualifikation, zuerst ihre Empathie, denn für mich steht der emotionale Ansatz an erster Stelle.“
Die Kinder von Vorzel sind zur Adoption freigegeben. „Es gibt eine Warteliste von Familien, die auf eine Adoption warten, und eine Warteliste von Kindern, die adoptiert werden sollen.“ Mit der Entscheidung, welches Kind in welche Familie kommt, hat die Direktorin nach eigenen Angaben nichts zu tun, die werde von einer kommunalen Behörde getroffen: „Für mich ist das auch in Ordnung, denn sonst hätte ich zu viel zu tun.“
„Unter meinen Mitarbeitern gibt es niemanden, der nicht durch den Krieg Schaden oder Verlust erlitten hat“
Der Krieg beeinflusst nicht nur die Emotionen der Kinder, sondern auch die der Erwachsenen, wie die Direktorin betont. „Es ist eine Realität, in der jeder auf die eine oder andere Weise Leid erfährt. Unter meinen Mitarbeitern gibt es niemanden, der nicht durch den Krieg Schaden oder Verlust erlitten hat. Er hat entweder sein Zuhause verloren oder einen geliebten Menschen – oder er hat einen geliebten Menschen, der an der Front kämpft. Emotional das für alle eine extrem schwierige Realität, die es zu ertragen und zu leben gilt.“
Die Kinder im Waisenhaus sollen von der schwierigen Lage der Ukraine so wenig wie möglich mitbekommen. „Wir versuchen sie so weit wie möglich von dieser Realität abzulenken, indem wir verschiedene Feste und spielerische Aktivitäten organisieren, die es ihnen ermöglichen, eine Art Parallelwelt zu leben. Und das Gleiche gilt für meine Mitarbeiter. Ich sage ihnen immer, dass sie, sobald sie zur Arbeit kommen und die Tür schließen, all ihre Tränen und all ihren Schmerz vor der Tür lassen sollen, um sich hier ganz auf die Kinder einzulassen.“
Heile Welt? Von wegen
An diesem Septembertag scheint die Sonne; kleine Waisenkinder vergnügen sich auf dem nagelneuen Spielplatz, den der Malteserorden der Einrichtung geschenkt hat. Im Flur des Kinderhauses hängen Fotos der Schützlinge, die von hier per Adoption in Familien vermittelt werden konnten.
Heile Welt? Von wegen. Laut Unicef (Zahlen vom Frühjahr 2025) sind seit dem russischen Überfall in der Ukraine über 2.500 Kinder verletzt oder getötet worden; wahrscheinlich liegt die wirkliche Zahl viel höher. Jedes fünfte Kind hat einen nahen Angehörigen oder Freund verloren. Mehr als 1.600 Schulen und andere Bildungseinrichtungen wurden zerstört.
Vorzel: Fotos von adoptierten Kindern im Flur
Wegen der Gefahr von Luftangriffen hocken viele Heranwachsende über lange Zeiträume in Kellern, statt mit Gleichaltrigen zu spielen oder zu chillen. Etwa zwei von fünf Kindern, durchschnittlich, werden online beschult, oder durch einen Mix von Online- und Präsenzunterricht. „Im Durchschnitt ergibt sich daraus ein Bildungsrückstand von zwei Jahren im Lesen und von einem Jahr im Rechnen.“ Und eine Mitarbeiterin der NGO „Save the Children“ berichtet uns in Kyiv, dass beim Kindesmissbrauch in der Ukraine die Zahlen nach oben geschnellt seien. Und sie fügt bitter hinzu: „Wie immer in einem Krieg“…
Hintergrund
Unser Redaktionsleiter Stefan v. Kempis nahm vom 14.-18. September an einer Reise des Groß-Hospitaliers des Malteserordens, Josef D. Blotz, in die Ukraine teil. Der Fokus galt dabei besonders Malteser-Hilfsprojekten in dem vom Krieg gemarterten Land, in dem der Malteserorden seit 1991 präsent ist. Seit dem Beginn des Krieges im Februar 2022 stellt er in einer gemeinsamen Anstrengung aller seiner Vereinigungen, Hilfskorps und etwa 1.000 Freiwilligen (sowohl ausländischen als auch ukrainischen) medizinische, soziale und psychologische Hilfe sowie sichere Unterkünfte für Vertriebene in der Ukraine und den Nachbarländern bereit.
(vatican news)