Helsinki – In ganz Europa gibt es keine Autobahn, die leerer ist als die von Helsinki Richtung St. Petersburg. Denn ungefähr in der Mitte, nach 200 Kilometern, endet sie einfach – an der seit nunmehr fast zwei Jahren geschlossenen Grenze zu Russland.
„Smartphones jetzt am besten in Flugmodus“, warnen unsere finnischen Begleiter schon 30 Kilometer vor der Grenze. Sonst könne es leicht passieren, dass das Netz wechselt – und sensible Daten in falsche Hände geraten …
Misstrauen liegt an der Vergangenheit
BILD in Finnland, dem EU-Land mit der längsten Grenze zu Russland (1340 Kilometer). Offiziell war der Grund ihrer Schließung im Dezember 2023, dass Moskau über sie systematisch Migranten nach Finnland schleuste, über deren Hintergrund niemand etwas wusste.
Inoffiziell wollen die Finnen einfach auf Nummer sicher gehen: Putins Angriff auf die Ukraine hatte die bittere Erinnerung an den Winterkrieg 1939/40 aufleben lassen, als Finnland Dorf für Dorf gegen die anstürmende Rote Armee verteidigen musste. Ganz ähnlich wie in der Ost-Ukraine heute.
Die letzten Kilometer vor den Zäunen und Absperrungen. Ein geschlossener Lidl mit Fußballfeld-großem Parkplatz – komplett leer. Ein „Outlet-Village“ namens „Zsar“, das zu besseren Zeiten Luxus-Kleidung von Armani oder Hugo Boss an russische Tagestouristen brachte.
Grenzschützerin Jenni (48) hat die goldenen Zeiten erlebt, als hier täglich Hunderte, manchmal sogar Tausende kamen: Vor 28 Jahren, als sie ihre Stelle angetreten hat, rollte hier der Rubel. „Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass wir unsere Grenze eines Tages schließen müssen, dass hier ein neuer Eiserner Vorhang entsteht“, sagt Jenni zu BILD.
Ende Gelände: Grenzschützerin Jenni an der Stelle, an der es auf der Autobahn nach St. Petersburg kein Weiterkommen mehr gibt
Foto: Albert Link
Nach der Grenzschließung wurde in Finnland diskutiert, Hinweisschilder Richtung Russland wie dieses abzumontieren
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BILD-Reporter Albert Link am früheren Grenzübergang zu Russland
Foto: Albert Link
Aktuell die größte Gefahr: Braunbären
Jennis Job hat sich radikal verändert. Hauptaufgabe sind derzeit Patrouillen. Je nach Dienstplan, bei Tag und bei Nacht. Noch gibt es keinerlei Anzeichen, dass russische Militärs oder Spione hier nach Finnland einzudringen versuchen. Flüchtlinge werden noch aufgegriffen, aber nur noch selten.
Gefährlich kann ihr Job trotzdem werden: Neben Wölfen und Wildschweinen leben Braunbären im Grenzstreifen, der in weiten Teilen durch den Wald verläuft, darunter drei Mamas mit ihren Kleinen.
Mehrsprachige Warnschilder weisen darauf hin: Hinter diesem Grünstreifen endet die Europäische Union, beginnt russisches Territorium
Foto: Albert Link
Für die etwa 3000 Menschen, die in Finnlands Südost-Zipfel leben, war die Grenzschließung wirtschaftlich ein Schock: Arbeitsplätze gingen verloren, wer sein Haus verkaufen musste, bekam plötzlich nur noch einen Bruchteil des früheren Werts.
Doch auf Dauer lassen sich die Furchtlos-Finnen nicht beeindrucken von den Drohungen aus Moskau: Ferienhütten, selbst in unmittelbarer Grenznähe, gibt es nicht mehr als Schnäppchen, die Preise ziehen seit Monaten wieder an.
Mehr zum ThemaWer an der Grenze lebt, muss sich entscheiden
Wer hier an der Grenze wohnt, ist hin- und hergerissen in der Frage, wie man auf die immer schrilleren Kreml-Drohungen reagiert. Niina (50), die im öffentlichen Dienst arbeitet, und ihr Mann Jouni (54) haben bislang noch nicht an den Schießkursen teilgenommen, die hier seit einiger Zeit regelmäßig angeboten werden – weil Finnland mit seinen gerade mal 5,5 Millionen Einwohnern jede Hand zur Landesverteidigung braucht. Niina sagt, sie vertraue voll und ganz der finnischen Armee. Und: Unter ihren Nachbarn seien gute Jäger.
Wegziehen wegen Putin? „Niemals“, sagt Niina beim Wohnzimmer-Interview, für das auch der BILD-Reporter die Schuhe ausziehen musste – da macht man in Finnland keine Ausnahmen. Niina sagt auch: „Wir waren wirklich viel zu blauäugig mit Russland. Diese Zeiten sind vorbei.“
„Unsere digitale Grenze hat Putin längst zerstört“
Zurück in Helsinki treffen wir die finnische Bestseller-Autorin Jessikka Aro (44, „Moskaus Schattenkrieg“, „Putins Armee der Trolle“), die seit Jahren über die Nadelstich-Strategie des Kremls gegen den Westen recherchiert und schreibt.
Die finnische Journalistin und Bestseller-Autorin Jessikka Aro wurde wegen ihrer Enthüllungen bedroht und musste zeitweise im Ausland arbeiten
Foto: Albert Link
„Können die Finnen hier weiter in Frieden leben?“, fragen wir sie. Werden die Russen ihre Grenze am Ende respektieren – oder werden die Menschen, die im Nordosten der EU leben, irgendwann zu Landverteidigern oder Flüchtlingen?
„Ich weiß es auch nicht“, sagt Aro offen. Aber eines aber könne sie in Anbetracht all der hybriden Angriffe und Desinformationskampagnen der letzten Jahre mit Sicherheit sagen: „Unsere digitale Grenze hat Putin längst zerstört.“