Der erfahrene Dienstgruppenführer eines nahen Polizeireviers steht fassungslos vor der zertrümmerten Glastür des Kunstgebäudes am Stuttgarter Schlossplatz. „Sowas hab’ ich noch nie erlebt“, sagt er. „Dass die auf uns mit Böllern schießen, ist ja normal, aber das? Wie Ballermann! Seit Stunden kriegt man keinen Rettungswagen mehr!“ Verletzte am Gehweg auf Tragen, in Notzelten in der Bolzstraße medizinisch versorgt, Zehntausende im Visier von Raketen und Böllern, ein Scherbenmeer – und die zentrale Feier zur Begrüßung des Jahres 2000 ein Scherbenhaufen.

Silvesterraketen und Pyros wurden in der Menge gezündet. Foto: Thomas Hörner

Außer Kontrolle, außer Rand und Band: Vor 25 Jahren musste die Stadt schmerzhaft feststellen, dass es so nicht mehr weitergehen konnte mit den Jahr für Jahr ausufernden Böllerexzessen zu Silvester auf dem Schlossplatz. Eine zentrale Feier zum Millennium sollte ein Signal für eine andere, eine friedliche Feierkultur setzen – für 900.000 D-Mark, umgerechnet 460.000 Euro.

Alle dachten nur an den digitalen Blackout

Doch die Organisation des städtischen Veranstalters geriet zur einzigartigen Panne. Statt Joe Cocker kamen nur unbekannte Interpreten wie Nana und Down Low. Gastronomen machten nur mit, weil Standgebühren erlassen wurden. Absperrungen und Böller- und Flaschenverbote gab es nur für den vorderen Teil des Schlossplatzes. Den gesamten Schlossplatz absperren – sei „aus praktischen Gründen gar nicht möglich“, ließ der Referent des damaligen Ordnungsbürgermeisters Jürgen Beck (CDU) verlauten. Auch wenn man das theoretisch wolle.

Alle fürchteten den digitalen Blackout. Weil nicht alle Computer die Jahreszahl 2000 verstehen würden. Im Rathaus wurde ein „Stab für außergewöhnliche Ereignisse“ eingerichtet, falls die Lichter ausgehen sollten. Der Schlossplatz spielte indes weniger eine Rolle. Wer würde da schon kommen angesichts des wenig attraktiven Programms?

Polizeiautos werden zu Krankentransportern

Falsch gedacht. Am Ende war es nicht die Technik, sondern der Mensch. Statt ein paar Zehntausend strömten mehr als 100.000 Menschen ins Stadtzentrum. Der Jahrtausendwechsel und die Anonymität in der Masse – für viele ein Grund zu feiern, als gäbe es kein nächstes Mal. Die Vernunft? Reset auf 000.

Auch Polizeiautos bleiben auf dem völlig überfüllten Schlossplatz stecken. Foto: Uli Kraufmann

„An unserem Streifenwagen hatten Unbekannte die Dachantenne abmontiert, wir konnten nicht funken, und wegen absichtlich davor ausgekippten Flaschenscherben mussten wir den Wagen stehen lassen“, sagt der Dienstgruppenführer von einst, Michael Saur. Auch als heutiger Leiter der Verkehrspolizeiinspektion erinnert er sich an die Szenen, als wäre es gestern gewesen. „Weil keine Rettungswagen mehr zur Verfügung standen, haben wir Verletzte mit unseren Polizeifahrzeugen zur Notaufnahme gefahren und dort abgeliefert.“ Zwei Rettungsfahrzeuge hatten wegen des Scherbenmeers einen Platten.

„Erstaunlich wenig“: Zwölf Verletzte durch Raketen

1000 Hilfeleistungen und 163 Krankentransporte durch das Rote Kreuz sind daher nur ein Teil der Statistik. „Zwölf Verletzte durch Feuerwerkskörper, das ist erstaunlich wenig, so viele wie da in die Menge geschossen haben“, bilanzierte der damalige DRK-Rettungsdienstleiter Wilfried Klenk, später bis Ende 2023 Staatssekretär im Innenministerium, inzwischen im Ruhestand. Die hauptsächlichen Diagnosen: Alkoholvergiftungen, Prellungen, Schnittwunden, behandelt in Notzelten und einem Abrollcontainer.

Glastür zertrümmert: Scherbengericht am Kunstgebäude. Foto: Thomas Hörner

Am Ende ein Scherbengericht. Für die zentrale Silvesterfeier werde es eine Neuauflage geben, so Stuttgart OB Wolfgang Schuster (CDU) wenige Tage nach dem Desaster. Die Feier sei „kein Beitrag zur Positionierung Stuttgarts als attraktiver Veranstaltungsort“ gewesen. Auch aus Kostengründen sei das gar nicht machbar, assistierte SPD-Wirtschaftsbürgermeister Dieter Blessing. Das Fiasko hatte umgerechnet 46.000 Euro Schadenersatz und 36.000 Euro zusätzliche Reinigungskosten bei 40 Tonnen Müll verursacht. Die Debatte um eine Silvesterfeier 2025/26 kreist nun ebenfalls um Finanzen: Die Stadt muss dringend sparen – und sagt deshalb die zentrale Feier ab. Die hätte 952.000 Euro gekostet.