Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts IV © Matthes & Seitz BerlinBild: Matthes & Seitz Berlin
Roman

Solvej Balle: „Über die Berechnung des Rauminhalts IV“

Was wäre, wenn der Reporter im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ nicht mehr aus seiner Dauerschleife am 2. Februar herausgefunden hätte? Für immer gefangen in einem einzigen Tag, während die Welt sich für die anderen Menschen weiterdreht? Dieses Gedankenexperiment hat die dänische Autorin und Philosophin Solvej Balle unternommen: Sie lässt ihre Protagonistin in einem 18. November stecken. Die inzwischen vierbändige Buchreihe wurde mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet und 2025 für die Shortlist des International Booker Prize nominiert.

Wer I Wie I Was

  • Von Solvej Balle

    Titel „Über die Berechnung des Rauminhalts IV“

    Übersetzung Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle

    Verlag Matthes & Seitz Berlin

    Erscheinungsjahr 2025

    ISBN 978-3-7518-1040-1

    Seiten 184

    Preis 22,00 Euro

Es ist merkwürdig, zuerst den vierten Band einer Reihe zu lesen, die vor allem von der Chronologie der Ereignisse bestimmt ist. Und zugleich fügt es sich perfekt, denn in diesen vier Bänden werden alle Regeln von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt und in Frage gestellt:

„Wir sind von der Unberechenbarkeit der Zeit zusammengesetzt worden, so stellen wir es uns vor, wir sind aus der Welt gefallen, jedem sein Fall, dasselbe Schwindelgefühl. Unsere einsamen Wanderungen im Achtzehnten. Und unsere Begegnungen. Nicht mehr allein sein. All das, was wir nicht zu erklären brauchen.“

Seit inzwischen fünf Jahren ist die Protagonistin Tara Selter zu Beginn des vierten Bandes in ein und demselben Tag gefangen. Egal, was sie tut: sie erwacht immer wieder am 18. November – für sie ist es der inzwischen 1892. 18. November:

„(…) Wie bezeichnet man die Tage in einer Zeit, die keine Jahre oder Jahreszeiten kennt, und wie gliedert man eine Reihe von Tagen, wenn weder Wochen noch Monate einen Sinn ergeben?“


Ein philosophisches Gedankenexperiment in sieben Bänden

Sie versucht ihrer neuen Existenz in diesem einen Tag einen Sinn zu geben und stellt sich immer neue philosophische Fragen. Im vierten Band allerdings nicht mehr allein wie in den ersten beiden Bänden, auch nicht zu zweit, wie im dritten Band, sondern mit immer mehr und mehr Menschen, die mit ihr zusammen in der Zeit feststecken.

Die dänische Autorin Solvej Balle arbeitete fern der Öffentlichkeit seit 35 Jahren an dieser Reihe in sieben Bänden, die nun in kurzen Abständen nach und nach erscheinen. Mit jedem Band versucht sie mit immer neuen Aspekten die Wahrnehmung von Zeit und Raum, Liebe und Verlust, das menschliche Sein, Denken und Fühlen ganz neu zu betrachten:

„Es ist schwer zu sagen, ob wir noch Menschen sind. Es war Sarah, der Zweifel kamen. Als sie es aussprach, lachte sie, aber sie meinte es ernst: Sie fühlte sich als etwas anderes.“

In „Berechnung des Rauminhalts IV“ kreisen die vielen Bewohner des 18. November wie in einem Kammerspiel um sich selbst und diskutieren über alles, was das neue Zusammenleben bestimmt: Wie teilen sie Zeitabschnitte so ein, dass sie noch wissen, wie alt sie eigentlich inzwischen sind? Ist es moralisch vertretbar, das Wissen über das Geschehen am 18. November für sich selbst zu auszunutzen? Sind sie verpflichtet, jeden Tag Unglücke zu verhindern, da sie ja wissen, dass sie geschehen werden?


Was würde ich tun, wenn ich aus der Zeit falle?

Jeder nutzt seine Zeit anders. Einige verlassen das gemeinsame Haus auf der Suche nach anderen Jahreszeiten, andere lesen in der Kälte des Novembers alle Bücher, die sie jemals lesen wollten. Wiederum andere besuchen immer wieder ihre kranken Eltern, mit denen sie nun unbegrenzte Zeit gewonnen haben.

Solvej Balle gibt mit dieser Einführung der anderen 18. November-Menschen ihren Lesern die Chance, zahllose Aspekte des Ausderzeitfallens für sich selbst durchzuspielen und sich zu fragen: Was würde ich tun?

„Man sollte meinen, wir seien wahnsinnig geworden, in Panik verfallen, zugrunde gegangen, zerbrochen, aber was mit uns geschehen ist, sei etwas völlig anderes. Eine Art Ausgeglichenheit.'“

Die Panik, das Drama, das haben die Menschen am Anfang erlebt, in den ersten Monaten des immer wiederkehrenden Novembertages: Sie mussten sich von Beziehungen und Lebensplänen verabschieden, – denn wie soll man eine Beziehung führen, wenn sich die anderen nie an die Gespräche und Erlebnisse des Vortages erinnern werden? Wie soll man bei der Arbeit Erfolge erzielen, wenn man nur einen Tag zur Verfügung hat? Wie kann man es ertragen, zu altern, während die Kinder immer klein bleiben?


Mit ruhiger Sprache beschreibt Balle Unerhörtes

Im vierten Band sind die November-Menschen so ruhig wie die klare und präzise Sprache von Solvej Balle, die ganz leicht und unprätentiös durch die vielen komplexen Fragestellungen trägt. Und mit der Zeit erscheint dieses Festsitzen in der Zeit auch als unerhörte Chance:

„Und jetzt? Wer übt Druck auf uns aus? Kein Mensch. Wo müssen wir hin? Nirgendwohin. Was erwartet man von uns? Nichts.“

Doch ganz so einfach macht es Solvej Balle ihren Protagonisten und ihrer Leserschaft letztendlich doch nicht: „Über die Berechnung des Rauminhalts IV“ endet mit einem massiven Cliffhanger, der die neuen Erkenntnisse in Frage stellt – zum Beispiel, ob wirklich niemand merkt, dass es Menschen gibt, die in der Zeit gefangen sind.

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radio3 Themeneseite Literatur © Christne Schöniger/colourbox

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Stand vom 14.10.2025