Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine steigt wieder deutlich an, insbesondere die Zahl junger Männer, die aus dem umkämpften Land nach Deutschland fliehen. Die Regierung in Kiew erlaubt jetzt den unter 23-jährigen männlichen Erwachsenen, das Land zu verlassen. Für die Ukraine ist es ein Aderlass, der ein ohnehin großes Problem mittelfristig verschärfen wird: Die Armee leidet unter massivem Personalmangel. Das Grauen an der Front, dokumentiert in unzähligen Videos und Bildern und sichtbar durch die vielen Kriegsversehrten in den Städten, schreckt die Menschen ab, sich freiwillig für den Dienst an der Waffe zu melden.
Viele Männer im wehrpflichtigen Alter ab 25 Jahren versuchen, sich der Einberufung zu entziehen. Die Ukraine verteidigt die Freiheit und die Demokratie gegen Russland. Die Regierung kann also nicht mit repressiven Mitteln gegen jene vorgehen, die nicht kämpfen wollen. Es ist ein Dilemma. Vor einem Dilemma steht auch die Bundesregierung. Sie will mit der von ihr ausgerufenen Migrationswende den Aufstieg der AfD eindämmen. Gleichzeitig schwört sie die Bevölkerung auf die weitere Solidarität mit der überfallenen Ukraine ein.
Jan Jessen, Kriegsreporter.
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Die EU hat erst im Juni beschlossen, den vorübergehenden Schutzstatus für Ukrainer bis März 2027 zu verlängern. Die steigenden Zahlen von ukrainischen Flüchtlingen bedeuten also, dass mehr Menschen direkt ins Sozialsystem einwandern. Es ist Öl in das Feuer rechter Hetze. Zugleich ist dieser besondere Schutzstatus, der ukrainische von syrischen oder afghanischen Geflüchteten unterscheidet, möglicherweise ein Anziehungs-Faktor für junge Ukrainer. Die beste Möglichkeit, dieses Dilemma aufzulösen, wäre es, Putin so schnell wie möglich zu zielführenden Verhandlungen zu zwingen, also den Sanktionsdruck zu maximieren – und die Ukraine mit den Waffensystemen auszustatten, die sie braucht, um die russischen Nachschublinien zu unterbinden oder die Gas- und Ölproduktion in Russland zu zerstören. Endet der Krieg, muss niemand mehr fliehen.