Die Europäische Union sollte gemeinsam Schulden aufnehmen, um europäische öffentliche Güter wie Verteidigung, Forschung und Entwicklung sowie Energie zu finanzieren. Das erklärte Alfred Kammer, Leiter der Europa-Abteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF), am Freitag gegenüber Reuters.

Gemeinsame Kreditaufnahme der EU-Staaten ist ein hochumstrittenes Thema. Die größte Volkswirtschaft des Blocks, Deutschland, steht gemeinsamer Verschuldung besonders kritisch gegenüber, aber auch eine Reihe anderer nordeuropäischer Länder lehnt diese scharf ab.

Die EU durchbrach dieses Tabu im Jahr 2020, als sie gemeinsam 800 Milliarden Euro aufnahm, um die europäische Wirtschaft nach der COVID-19-Pandemie wiederzubeleben. Seither wird die Option weiterer gemeinsamer Schulden, obwohl weiterhin sehr schwierig, öffentlich diskutiert.

EU SOLL ANSTIEG DER AUSGABEN FÜR ÖFFENTLICHE GÜTER ÜBER SCHULDEN FINANZIEREN

Die Bedrohung durch russische Aggression in Europa hat den Bedarf an Verteidigungsausgaben dramatisch erhöht, und der Wettbewerb mit China und den USA verstärkt den Druck, europäische Innovationen zu fördern und die Energiepreise zu senken.

„Wir schlagen konkret vor, die Ausgaben der Europäischen Union für diese öffentlichen Güter mehr als zu verdoppeln, von derzeit 0,4 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) auf 0,9 % des BNE“, sagte Kammer im Interview. Dieser Anstieg entspräche etwa 100 Milliarden Euro (117 Milliarden US-Dollar).

„Wir haben noch eine weitere Empfehlung, nämlich diesen Anstieg im EU-Haushalt durch gemeinsame Schulden zu finanzieren, um diese europäischen Güter zu bezahlen. Sie sind unerlässlich, sie müssen umgesetzt werden, der Nutzen kommt allen zugute, und man möchte sicherstellen, dass der Nutzen sofort einsetzt“, so Kammer weiter.

„Natürlich wird diese Schuld dann im Laufe der Zeit bedient. Dafür braucht es eine Erhöhung der Eigenmittel (Einnahmen für den EU-Haushalt), um diesen Schuldendienst zu leisten. Scheuen Sie sich also nicht, über gemeinsame Schulden für gemeinsame Interessen nachzudenken“, betonte Kammer.

Gemeinsame EU-Verteidigungsprojekte, die bereits durch das EU-Programm von 150 Milliarden Euro an günstigen EU-Krediten finanziert werden, sind bereits Realität – allerdings dürfte angesichts des enormen Investitionsbedarfs im Verteidigungsbereich noch mehr Geld erforderlich sein.

Eine gemeinsame Finanzierung zum Aufbau eines europäischen Energiemarkts wäre hingegen neu – die EU muss nicht nur den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen hin zu emissionsfreien Energiequellen schaffen, sondern auch grenzüberschreitende Netze errichten, um Strom im gesamten Block zu transportieren.

Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation kämen ebenfalls allen 27 EU-Ländern und den 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern des Blocks zugute.

„Diese öffentlichen Güter werden viele weitere Reformbemühungen unterstützen, sie sind also entscheidend für den Fortschritt“, sagte Kammer und fügte hinzu, dass ein Koordinationsmechanismus auf EU-Ebene notwendig sei und dies Kosten sparen würde.

„Mehr Koordination auf europäischer Ebene im Elektrizitätsmarkt spart 7 % der Kosten für die saubere Transformation“, erklärte Kammer.

„Andere Studien zeigen, dass bei Verteidigungsausgaben durch gemeinsame Beschaffung und eine koordiniertere Vorgehensweise tatsächlich 30 % gegenüber nationalen Maßnahmen eingespart werden können“, so Kammer. „Es ist günstiger, dies auf europäischer Ebene zu tun.“

Die EU diskutiert das Konzept öffentlicher Güter im Rahmen der Debatte über den nächsten siebenjährigen Haushalt ab 2028, doch bislang wurden keine abschließenden Vereinbarungen getroffen.

($1 = 0,8554 Euro)