Zum siebten Mal organisieren Anja Kösler, Jörn Dege und Nils Kahlefendt (zunächst noch mit Claudius Nießen) gemeinsam den Literarischen Herbst in Leipzig – höchste Zeit für ein Treffen in voller Besetzung: In der Möbelkooperative Süd, einem der Veranstaltungsorte des Festivals, sprechen wir über prominente Gäste, die finanzielle Lage der städtischen Kultur und das Gespür dafür, welche Lesungen die Menschen begeistern.
Im Juni hat die Stadt Leipzig die Projektgelder für die Kultur eingefroren. Wie plant man ein Festival, wenn die finanzielle Lage so ungewiss ist?
ANJA KÖSLER: Wir bekamen Anfang des Jahres ein Schreiben vom Kulturamt, dass für uns eine Förderung in Höhe von 40.000 Euro vorgesehen ist, und haben dementsprechend unser Programm geplant. Dieses Schreiben ist kein Förderbescheid, aber bisher war es so, dass man eigentlich mit diesem Geld rechnen konnte. Deshalb traf uns das dann wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
JÖRN DEGE: Und das zu einem Zeitpunkt, als wir gerade das Programm fertig hatten. Plötzlich war da diese große Unsicherheit und die Frage, wie wir überhaupt weitermachen können. Wir haben uns dann auf unterschiedliche Szenarien vorbereitet, aber das Festival erst mal so weitergeführt, wie wir es geplant haben, und gehofft, dass alles gutgeht.
Der Leipziger Hörspielsommer hat sich dieses Jahr mit Spendenaufrufen über Wasser gehalten. Sind auch beim Literarischen Herbst solche Maßnahmen zu erwarten, damit das Programm stattfinden kann?
DEGE: Im Moment setzen wir darauf, dass der Härtefallantrag, wie er gestellt ist, durchgeht. Dann kann alles wie geplant stattfinden. Sollte das nicht klappen, würden wir uns was einfallen lassen. Dann kann es durchaus sein, dass wir auch Crowdfunding und Spendenaufrufe starten oder einzelne Veranstaltungen absagen müssen. Und im Worst Case können 80 Prozent vom Programm nicht stattfinden.
KÖSLER: Das wäre für unseren Ruf als Festival eine Katastrophe, wir stehen ja auch bei den Leuten im Wort.
Angenommen, es kann alles stattfinden, was bietet dieser Jahrgang?
DEGE: Wir haben ein sehr politisches Programm in diesem Jahr, was einerseits an der Zeit liegt und an den politischen Voraussetzungen, da drängt sich einiges auf. Und andererseits hat das auch mit Kooperationspartnern zu tun.
KÖSLER: Mit dem Festival für Politik im Freien Theater machen wir zwei Veranstaltungen und über die Kooperation mit dem Literaturhaus sogar noch drei weitere.
DEGE: Der Anfang ist prominent besetzt. Wir starten mit Herbert Grönemeyer und Michael Lentz am Sonntagabend im Gewandhaus und Karl Schlögel am Anfang der Woche.
KÖSLER: Und dann geht es munter weiter mit Götz Aly in der Albertina. Sein neues Buch macht gerade auch ziemlich Furore. Ich habe gestern gehört, dass es gerade nicht lieferbar ist. Das verspricht schon vieles.
NILS KAHLEFENDT: Denis Scheck wird auch mal vorbeischauen mit »Kafkas Kochbuch«. Das wird in der Kirow-Kantine sein, ein neuer Ort für uns übrigens.
DEGE: Wir führen auch bewährte Reihen fort, die wir immer weiterentwickelt haben. »Beste erste Bücher« machen wir wieder im Ost-Passage-Theater. Und das Lyrikhotel hier in der Möbelkooperative Süd und in der Alten Post. Anja Kampmann liest in der Alten Nikolaischule, das wird sicher auch eine tolle Veranstaltung. Zwei wirklich schöne Sachen sind in der Galerie für Zeitgenössische Kunst: Leif Randt ist zu Gast mit seinem neuen Roman, und Frank Witzel. Und ich freue mich wahnsinnig auf den Abend mit Dorothee Elmiger, weil ich das Buch so fantastisch finde.
KAHLEFENDT: Der »Junge Herbst« wird auch wieder stattfinden. Spätestens während Corona hat sich gezeigt: Wenn du ein Festival für eine Stadt planst, gehören auch Kinder und Familien dazu. Am Freitag haben wir Veranstaltungen für Kitas und Schulen und der Samstag ist offen für Familien.
DEGE: Da gibt es viele Mitmachsachen, aber auch klassische Lesungen, Karen Köhler kommt zum Beispiel mit ihrem Kinderbuch.
KAHLEFENDT: Und wahrscheinlich nicht so bekannt, aber auch ein hinreißendes Buch kommt von Ondřej Buddeus. »Fahr Rad!« heißt es, ein super Sachbuch über Fahrradfahren, das ist wie eine Wundertüte.
Der prominenteste Name im Programm ist Herbert Grönemeyer. Anfang des Jahres hatten Sie in einer Sonderveranstaltung schon Angela Merkel an selber Stelle. Entsteht ein gewisser Druck, wenn man solche Persönlichkeiten einlädt?
KÖSLER: Gute Frage. Ich finde schon. Wenn man das einmal geschafft hat, kann man damit andere Veranstaltungen finanzieren, die sonst nicht möglich wären.
DEGE: Dann lässt sich auch ein Programm aufstellen, das in Teilen zwar nur für eine kleine Nische interessant ist, aber aus unserer Sicht unbedingt zu so einem breiten Festival gehört.
KAHLEFENDT: Und für die Strahlkraft des Festivals ist es wichtig, auch den Verlagen zu zeigen: Wir können so was wuppen.
2023 ist Alice Schwarzer beim Literarischen Herbst aufgetreten. Auch dieses Mal sind nicht ganz unumstrittene Namen dabei, Peter Sloterdijk zum Beispiel. Wie entscheiden Sie darüber, wer eine Bühne bekommt und wer nicht?
DEGE: Wir entscheiden die Sachen gemeinsam. Bei Kooperationsveranstaltungen, wie jetzt der Veranstaltung im Literaturhaus mit Peter Sloterdijk, kann es manchmal so sein, dass wir im Vorhinein nicht ganz wissen, was auf uns zukommt. Aber in der Regel entscheiden wir das gemeinsam. Auch das klappt nicht immer hundertprozentig, wie im Fall von Alice Schwarzer, wo es dann doch komplizierter wurde.
KÖSLER: Ich glaube aber, dass wir im Allgemeinen zu relativ ausgewogenen Entscheidungen kommen, weil wir alle unterschiedlich alt sind und aus unterschiedlichen Kontexten kommen.
KAHLEFENDT: Wir machen eben ein Festival für die ganze Stadt. Es gibt bestimmte Sachen, die würden wir nicht machen, aber das ist immer wieder auszuhandeln. Im berühmten Jahr von Schwarzer war auch ein queeres Kindertheaterstück im Programm, das hat bloß keiner so richtig gemerkt.
Wie kann man sich den Prozess der Programmgestaltung bei Ihnen vorstellen?
DEGE: Es läuft parallel auf sehr unterschiedlichen Wegen. Mit dem Programm sind wir so ein halbes Jahr beschäftigt: Was sollte man mal machen, was wollten wir eigentlich letztes Jahr machen, hat aber nicht geklappt? Dazu gehören dann Gespräche mit Verlagen, Kooperationspartnern, Veranstaltern vor Ort und so weiter.
KAHLEFENDT: Manchmal gibt es besonders schöne Gelegenheiten, zum Beispiel das Lyrikhotel mit Ulf Stolterfoht, daran schrauben wir seit vier, fünf Jahren. Und irgendwann klappt es, zack, dann ist die Freude groß.
KÖSLER: Neuerscheinungen sind ein wichtiges Thema, aber wir haben auch Bücher im Programm, die durchaus ein paar Jahre alt sein können. Diese Tendenz im Buchhandel, dass es immer schneller geht, möchten wir nicht so unterstützen. Und wir bemühen uns natürlich auch, Leute, die hier in Leipzig schreiben, mit ins Programm zu integrieren.
DEGE: Ein schönes Beispiel dafür finde ich die Kombination von Marko Martin und August Modersohn. Modersohn hat einen Reportageband über die Veränderungen in Ostdeutschland seit der Wende geschrieben. Das passte dann auf dieses literarische Tagebuch von Martin von 1990. Das ist das Tolle, man kann Konstellationen herstellen, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Da entstehen über die Woche hinweg richtige Landschaften und einzelne Zentren mit Anziehungskraft.
Sie legen viel Wert darauf, Veranstaltungen abseits der klassischen Wasserglas-Lesung zu machen. Funktioniert die nicht mehr oder sind andere Formate einfach reizvoller?
NILS KAHLEFENDT: Ich würde nicht das eine gegen das andere ausspielen, aber es ist so, wie Jörn sagt: uns reizen Konstellationen manchmal mehr als einfach einen Autor oder eine Autorin einzuladen.
ANJA KÖSLER: Wir wollen unsere Handschrift aufdrücken. Am Ende kauft man das Buch und liest es selbst, aber das Gespräch über das Buch ist doch etwas sehr Wichtiges.
JÖRN DEGE: Und es ist natürlich super, Abende zu machen, an denen du nicht weißt, was passiert. Es gibt keine Regeln, kein Thema.
Haben Sie über die Jahre ein Gespür dafür entwickelt, welche Lesung bei den Leuten gut ankommen wird?
DEGE: Ich hatte eine richtige Lernkurve über die Jahre. Trotzdem ist es fast unmöglich, vorab zu sagen, welcher Abend wirklich großartig wird und welche Lesung schleppend läuft. Da gibt es immer wieder Überraschungen. Wir hatten Sachen, bei denen wir uns sicher waren, es kommen viele Leute und es wird ein tolles Ding, und dann war das eine ziemlich müde Sache.
KÖSLER: Und umgekehrt genauso.
KAHLEFENDT: Manchmal hat man auch das Quäntchen Glück. Ich denke an diese tolle Veranstaltung mit Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt letztes Jahr, zusammen mit einem supereinfühlsamen Moderator, der die beiden vorher besucht hat. Der Abend war nicht lang, aber megaintensiv. Das sind dann wirklich die Sternstunden, von denen man träumt.
Gibt es eine Person, die Sie bisher noch nicht dabeihatten, sich aber wünschen würden?
JÖRN DEGE: Wen wir jedes Jahr anfragen und bisher nicht bekommen haben, ist Clemens Setz (lacht). Er sagt jedes Jahr »Ach, nächstes Jahr sollte es eigentlich klappen«. Dieses Jahr habe ich ihn gar nicht gefragt!
ANJA KÖSLER: Doch, hast du.
JÖRN DEGE: Habe ich? Das ist jedes Jahr meine Standardaufgabe: Clemens Setz anfragen.
NILS KAHLEFENDT: Ich habe auch eine Standardaufgabe: Für den »Jungen Herbst« frage ich seit sieben Jahren Axel Scheffler an, weil der meistens zur Frankfurter Buchmesse in Deutschland ist. Er lebt in London. Seit sieben Jahren muss ich mir anhören, dass er nicht kann, weil in England Schulferien sind und er Zeit mit seiner Tochter verbringen will. Aber die Tochter wird jetzt mit der Schule fertig und vielleicht klappt es nächstes Jahr endlich. Ich werde es jedenfalls wieder versuchen.
> 19.–26.10., verschiedene Orte, www.literarischer-herbst.com