Ein Buch mit Widerhaken, die man zunächst überwinden muss, dann aber in einen Sog gerät, belohnt wird und das Befremden hinter sich lässt: Mit ihrem neuen Roman „Prinzessin Alice“ weckt Irene Dische Neugier. Alice Mountbatten, 1885 in Windsor Castle geboren, 1969 im Buckingham Palace gestorben, nahezu gehörlos, hochadelig, Enkelin von Queen Victoria, Mutter von Prinz Philip, Schwiegermutter von Queen Elisabeth II., Großmutter des britischen Königs Charles III. – und eine Gestalt, die aus jedem Rahmen fällt. Von den Lippen kann sie fünf Sprachen ablesen. Sie ist bildhübsch, blond mit blauen Augen. Ihre erotische Lust, zu der sie freimütig steht, lässt die damalige Gesellschaft erschauern, gleichfalls ihre tiefe, fanatische Gottesliebe – beide Faktoren führen dazu, dass man sie für komplett verrückt hält.

Durch ein schillerndes Netzwerk historischer Begebenheiten lässt Irene Dische das Leben einer witzigen, intelligenten und selbstironischen Frau leuchten, der man hautnah kommt. Denn erzählt wird aus der Perspektive ihrer Protagonistin, die unverblümt, stets hoffend, aber auch schmerzlich und kummervoll ihr Leben, Lieben und die bizarren Stationen dieser „Reise“ beschreibt. Mit dem Stammsitz der Familie – Darmstadt – bleibt sie verbunden, obwohl deren Mitglieder über die ganze Welt verstreut sind, heiraten, Nachkommen zeugen, Rebellionen und Abstürze erleben – stets erhobenen Hauptes. Die Verwandtschaft ist glamourös: Die Urenkelin von Queen Victoria hat als Tanten eine Zarin sowie eine Königin von Schweden und als Onkels die Könige von Spanien, Dänemark und England.

Irene Dische: „Prinzessin Alice“, 160 Seiten, 20 Euro, Claassen Foto: Claassen

In einer bemerkenswert recherchierten Geschichte fühlt sich die Autorin ein in eine unkonventionelle Psyche und ein Umfeld, das dieses Familienmitglied nur allzu gern ausgeblendet hätte. Wichtige Gestalten im Umfeld der Prinzessin, die weder naiv noch beschränkt ist, sind die Schwägerinnen Marie Bonaparte, die unter ihrer Frigidität leidet, sowie Edwina Mountbatten, lebenslustig, der Liebe heftig zugetan, und Psychiater Sigmund Freud in all seiner männlichen und fachlich doch eher fragwürdigen Wucht.

Irene Dische, Schriftstellerin mit amerikanischer und österreichischer Staatsbürgerschaft, veröffentlichte 1993 ihren ersten Roman „Ein fremdes Gefühl oder Veränderungen über einen Deutschen“ – übrigens inspiriert durch den emigrierten Pianisten Anatol Ugorski, dem sie zur internationalen Karriere verhilft, und dessen Interpretation von Ludwig van Beethovens „Diabelli-Variationen“ sie begeistert. Durch Magnus Enzensberger erhält sie wichtige Förderung und hat dabei einen Stil entwickelt, der persönlich ist, vertraulich fast, sich immer wieder entziehend und nur offen denen gegenüber, die sich für ihre Gestalten ernsthaft interessieren.

Tochter jüdischer Flüchtlinge

Irene Dische wurde 1952 in New York geboren, ihre jüdischen Eltern waren aus Deutschland geflohen. Heute lebt sie in Berlin und Rhinebeck. Dische studierte Anthropologie, Literatur und Geschichte an der Harvard Universität. Zu ihren gefeierten Romanen und Erzählungen zählen unter anderem ihr Bestseller „Großmama packt aus“ (2005) und der Roman „Schwarz und Weiß“ (2017).

Spannung kommt auf, allein durch die Tatsache, dass sich die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs anbahnt, ihre Schwestern hochrangige Nazis heiraten und dass Alice als Gattin des griechischen Königs Andreas mit ihrer gesamten Familie nach dem dortigen Staatsstreich fliehen muss und nicht einmal in England Asyl bekommt: „Tja, ob Sie es glauben oder nicht, die hasenfüßige britische Regierung fürchtete die Zurschaustellung royaler Schwächen“, ist nur eine von zahlreichen messerscharfen Einschätzungen, die diesen Roman so prickelnd sein lassen.

Irene Dische gelingt es mit poetischer Kraft selbst Alpträume erlebbar zu beschreiben, natürlich aus der Perspektive von Alice, die selbst als Flüchtling aus Familienbanden, unter einer Brücke, mit dem Kruzifix in der Hand, eine wohlige, wenn auch befremdliche Nacht verbringt, Elendssituationen mit dünner Suppe selbstironisch ausgestaltet und durch ihre Beobachtungsgabe verblüfft.

Besonders eindrucksvoll – das Kapitel, in dem sie zwei Jahre Aufenthalt in Sigmund Freuds Psychiatrie (Berlin, dann Überlingen/Bodensee) umgreift, durchschüttelt, erduldet, seit 1930 der Diagnose „Paranoide Schizophrenie“ unterworfen. Massige Pflegerinnen unterbinden jeden Mucks. Sie wird dick gefüttert, gebadet, auf den Toilettenstuhl verfrachtet und in einen Dämmerzustand der Wehrlosigkeit versetzt. Doch da bleiben Erotik und die Liebe zu einem schemenhaft erscheinenden Mit-Patienten, Fluchtversuche, Turbulenzen, die wie Szenen aus einem Film mit Slow-Motion erscheinen. Bald hat sie die Angewohnheit, in einer selbst genähten Ordenstracht abzutauchen. Alice weiß sich als „Ehefrau Gottes“, segelt in diesem Gefühl durch enorme Stromschnellen der Geschichte, erlebt schicksalhafte Begebenheiten in den Leben ihrer Kinder – die sie nur heimlich sehen kann.

Irene Disches Schreibstil ist unmittelbar, filigran und unterhaltend. Der wichtigste Abschluss für Alice, die einem ans Herz wächst: „Ich verbringe meine Ewigkeit bei Gott, im Gelobten Land.“ Tatsächlich wird sie in der Maria-Magdalenen-Kirche auf dem Jerusalemer Ölberg beigesetzt. Der Kreis schließt sich wundersam.