Loch im Buch
Im Innenhof zwischen den Hallen der Frankfurter Buchmesse, der sogenannten Agora, ist eine Rakete eingeschlagen. Denkt man jedes Mal von neuem, wenn man von ganz oben, auf dem Balkon der Halle 3, hinunterschaut auf den weitläufigen Platz, die Imbissbuden, die Menschen – und diese weiße Rakete. Die Deutschen Raumfahrtagentur, die zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt gehört, hat sie hierher transportiert, es ist die „Spacebuzz One“ und eigentlich nur eine Kabine auf dem Anhänger eines Lastwagens, aber wer hineingeht, und das sollen vor allem Kinder, kann für eine Viertelstunde per VR-Brille virtuell ins All fliegen und von viel, viel weiter oben als vom Balkon von Halle 3 auf die Menschheit hinunterschauen.
Solche Brillen und die Virtual Reality sind sowieso und weiterhin ein Ding auf der Messe, der Kulturstaatsminister hat sich aber entschieden, nicht seinen Avatar nach Frankfurt zu schicken, sondern höchstpersönlich durch die Gänge zu schlendern, begleitet von Sicherheitsleuten, und er tut das so unbeachtet, dass eine Verlagsmitarbeiterin, an deren Stand er vorbeikommt, überglücklich davon erzählt, wie sie gleich ein Selfie mit ihm machen konnte. Am Stand von Kyss wiederum, dem Rowohlt-Imprint für Liebe und Romantik, können sich Besucherinnen (und die Zufallsstichprobe über Tage hinweg zeigt, dass es wirklich nur Besucherinnen sind) eine VR-Brille aufsetzen, um so in ihre Lieblingsromane aus dem Programm von Kyss einzutauchen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Das sieht toll aus, selbst wenn man nur von außen zuschaut, diese Spannungsruhe, diese Erwartungsbelustigung, was kommt nur als nächstes? Und einmal will ein Mitarbeiter des Verlags einer Besucherin nur vorsichtig helfen, die Brille richtig aufzusetzen, aber die ist schon so abgetaucht, in das, was sie da vor sich sieht, dass sie bei seiner Berührung heftig zusammenzuckt. Rätselhaft bleibt in diesen ersten Tagen einer noch mittelleeren Messe aber, was nur genau das ovale Loch in der Installation zum neuen Buch von Sebastian Fitzek bedeuten soll.
„Der Nachbar“ heißt es: Der Verlag hat ihrem Bestsellerautor einen ganzen Stand um den Thriller herum gebaut, eine dunkelgrüne Hecke, ein Bildschirm, es geht offenbar um Beobachten und Ausspionieren von nebenan, und vermutlich sollen die Leute ihren Kopf durch das Loch in der Hecke stecken und sich selbst fotografieren, und das tun manche dann auch, ganz ohne Anleitung, aber Fitzek ist noch nicht da, dass sie ihn fragen könnten, ob sie ihn da richtig verstanden haben, aber diese große, leere Rätselhaftigkeit dieses Stands ohne Autor hat dann auch wieder einen ganz eigenen fiktionalen Reiz.
Tanzen
Über Partys wird auf der Buchmesse immer viel geredet. Diesmal ging es allerdings oft um die Partys, zu denen man nicht ging. Die vom Rowohlt-Verlag zum Beispiel. War man da nun einfach nicht eingeladen? Oder fand sie gar nicht statt? Geht es der Buchbranche nun schon so schlecht, dass das Geld zum Feiern fehlt? Das wären düstere Aussichten, aber auch aus denen muss man das beste machen – und Alternativen finden: In der Bar Shuka veranstalteten am Mittwoch zwei brasilianische Verlage, Companhia das Letras und Fosforo, eine Party.
Die bestätigte glücklicherweise das Klischee, dass die Brasilianer dann doch den besseren Musikgeschmack haben als die Deutschen. Und so tanzten wir so ausgelassen, dass das Rumstehen und Labern bei Rowohlt wie früher in der Schirn gar nicht fehlte. Traditionen sind schön, sie zu brechen aber auch.
Unterm Regenbogen
Den größten Applaus bekam beim Buchmessenempfang des Suhrkamp Verlags, dem sogenannten „Kritikerempfang“, am Mittwochabend der Teppich. Als der Verleger Jonathan Landgrebe ihn in seiner Rede erwähnte, begriffen die Gäste überhaupt erst, worauf sie da standen und erkannten ihn wieder: Der Teppich stammte aus der Villa des früheren Verlegers Siegfried Unseld in der Frankfurter Klettenbergstraße, wo schon die ersten Kritikerempfänge mit Thomas Bernhard stattgefunden hatten.
Schlangestehen gehört zur Frankfurter Buchmesse dazu.dpa
Das Haus wurde 2024 verkauft, die Messefest-Tradition will man dennoch aufrechterhalten, und so hatte der Verlag in das nur hundert Meter vom Ursprungsort entfernte Holzhausenschlösschen eingeladen, dem Sitz der Frankfurter Bürgerstiftung, den Raum nostalgisch ausgelegt und über der Bühne die Suhrkamp-Bücher im Design von Willy Fleckhaus als Regenbogen angeordnet. Unter den Gästen sah man die Autoren Rainald Goetz, Jina Khayyer, Thomas Meinecke und Nora Bossong, Andreas Maier, Enis Maci, Ozan Zakariya Keskinkılıç, den Eigentümer des Verlags, Dirk Möhrle, und die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, der am Ende des Abends ein zerbrochenes Glas in Hand hielt, ganz so, als hätte er hineingebissen. Er schien aber unversehrt zu sein.
Auf der Bühne las der Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht, von allen „Sepp“ genannt, aus seinem im kommenden Frühjahr erscheinenden autobiographischen Buch „Mein Leben auf Halbdistanz“ vor. Und verriet zum Erstaunen aller, dass er sein Leben lang – Gumbrecht lehrte an der Stanford University in Kalifornien und ist dort inzwischen emeritiert – kein leidenschaftlicher Leser gewesen sei.
Auch nach seiner Emeritierung habe er es trotz guter Vorsätze nicht geschafft, auf Hawaii Gottfried Keller zu lesen. Erst gegen Ende seiner Lehrtätigkeit habe sich eine Gruppe mit Studierenden gebildet, die immer mehr Zulauf bekam. Sie widmete sich dem Close Reading. Gumbrecht schilderte, wie bis zur kollektiven Erschöpfung philosophische Praxis hier zu einer Form der Existenz wurde, die auch ihn entflammte: „Der Geist schien sich von seinen Herkünften abzuheben und verselbstständigte sich“, sagt „Sepp“. In Frankfurt blieben aber alle schön auf dem Teppich.
Stand Israel
Am Ende von Gang D in der internationalen Halle 6 hat das Israeli Institute for Hebrew Literature einen Pavillon eingerichtet – es ist, und nennt sich selbst so, der israelische Stand auf der Buchmesse 2025. Ein Lesesessel, Romane in hebräischer Sprache, in einer Ecke eine Videoinstallation, die Bilder der Geiseln zeigt, die seit dem 7. Oktober 2023 von der Hamas verschleppt oder ermordet wurden. Donnerstag, später Nachmittag, es gibt israelischen Wein und Finger Food, Sigalit Gelfand, die Geschäftsführerin des Instituts, spricht ein paar Begrüßungsworte, unter den Gästen sind Autorinnen wie Tamar Raphael und Autoren wie Assaf Gavron, der Wein ist wundervoll, die Feigen mit Walnüssen sind es auch. Dass diese Buchmessenwoche mit der Befreiung der Geiseln beginnen würde, sagt Sigalit Gelfand später im Gespräch, habe natürlich niemand ahnen können, und sie erwähnt es auch gleich als erstes in ihrer Ansprache.
Entspannen auf der BuchmesseFrank Röth
Aus München ist Talya Lador-Fresher nach Frankfurt gekommen, die Generalkonsulin des Staates Israel für Süddeutschland, „wir sind ein Volk des Buches“, sagt sie, „und wir verstehen ein bisschen was davon“, sie erwähnt die vielen Bücher, die seit dem 7. Oktober in Israel über diesen 7. Oktober erschienen sind, und sie nennt das, was da am Montag geschah und diesen leisen Moment am Ende eines Ganges einer lauten Messe prägt, eine „Pause“, erhofft, ersehnt und dringend benötigt.
Spannungen aushalten
Das schrecklichste Buch dieser Messe versteckt sich in einem der interessantesten: „Wie konnte das geschehen?“ heißt dieses Buch, in dem der Historiker Götz Aly sich noch einmal mit der Frage beschäftigt, wie die Nationalsozialisten an die Macht kamen und warum die Deutschen so bereitwillig mitmachten bei Vernichtungskrieg und Massenmord. Um sie zu beantworten, hat er nicht nur Feldpostbriefe und Zeitzeugenäußerungen studiert, sondern auch das Tagebuch von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Um die komplexe Antwort zu verstehen, muss man das siebenhundert Seiten lange Alterswerk lesen.
Aber die Spannung von Abscheu und Interesse, die seltsame Begeisterung für Goebbels’ Botschaft an die Nachwelt, vermittelt sich sehr schnell bei Alys Auftritt am Donnerstag am Stand der „Süddeutschen Zeitung“. Wie Aly von Goebbels erzählt, von seinem Scheitern als Romanautor, seinem Machthunger und seiner Intelligenz, lässt eine Neugier erkennen, die sich nicht vom Entsetzen ersticken lässt.
Was auch für den Blick auf die Vorfahren gilt: Die Deutschen, sagt Aly, sind „so intelligent und so moralisch gewesen wie wir auch und ein bisschen öfter in die Kirche gegangen. Das ist der wichtigste Unterschied. Wir sollen uns nicht einbilden, wir seien andere oder bessere Menschen.“ Dass er trotzdem eher vorsichtig ist, Vergleiche zur aktuellen Verbreitung eines autoritären Geistes zu ziehen, weil wir heute weit entfernt sind von der Armut und der existenziellen Not der damaligen Zeit, macht seinen Blick umso differenzierter.
Nur eine Parallele betont er: Das Tempo, mit dem die Nazis damals die Leute überforderten, „indem dieser ganze Laden ständig in Bewegung gehalten wird und in Drehung versetzt“, erinnert ihn dann schon an Trump. „Flooding the zone with shit“ war offenbar auch damals schon die Strategie. Im Publikum steht Ulf Poschardt und hört interessiert zu. Ein Autogrammjäger hält ihm sein Buch „Shitbürgertum“ hin und bittet ihn, es zu signieren. Später wird der Besucher am Stand der F.A.Z. die Buchpreisgewinnerin Dorothee Elmiger bitten, ihr Buch „Die Holländerinnen“ zu signieren. Auch solche Spannungen muss man wohl aushalten.
Gewalt aushalten
Einen literarischen Text zu übersetzen, bedeutet, ihn während der Übertragung in die andere Sprache zu verinnerlichen. Um dem Original treu zu bleiben, muss man die im Text dargestellte Situation nicht nur verstehen, sondern auch den geschilderten Augenblick nachempfinden. Ein guter Übersetzer hat das, was geschildert wird, durchlebt – gelingt das nicht, kommt am Ende keine gute Übersetzung dabei heraus. Texte, die von geschlechtsspezifischer Gewalt, von sexuellem Missbrauch etwa oder Femizid handeln, stellen deshalb besonders große Herausforderungen an die Übersetzenden dar und bedeuten eine immense psychische Belastung.
Um die Frage, wie man sich solchen Texten nähert und mit welchen Strategien man sie auch emotional bewältigen kann, ging es am Donnerstag bei der Podiumsdiskussion „Die Dinge beim Namen nennen – Geschlechtsspezifische Gewalt übersetzen“ im Zentrum Wort in Halle 4.1. Dort saßen neben der Moderatorin Veronika Islinger, die in München über die Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt in der Literatur promoviert, die Übersetzerinnen Johanna Schwering und Grit Weirauch auf der Bühne.
Johanna Schwering hat „Lilianas unvergänglicher Sommer“, ein autobiographisches Memoir von Cristina Rivera Garza aus dem Spanischen ins Deutsche übertragen. In dem Buch, das mit dem Pulitzerpreis geehrt wurde, versucht die Autorin, 29 Jahre nachdem ihre Schwester in Mexiko einem Femizid zum Opfer fiel, dem Grauen auf den Grund zu gehen. Schwering schilderte, wie sie in Ermittlerkreisen und auf Frauenrechtsdemos nach den richtigen Begrifflichkeiten recherchierte.
Im Durchgang bei Halle 5Frank Röth
Als sie mit der Übersetzungsarbeit anfing, sprach man in Deutschland noch kaum von „Femizid“, sondern eher von „Mord aus Leidenschaft“. „Für mich ist die emotionale Wucht des Textes allerdings noch herausfordernder gewesen, als die richtigen Worte zu finden“, sagte sie. Grit Weirauch wiederum erzählte von ihren Erfahrungen mit Vanessa Schneiders Buch „Die Geschichte der Maria Schneider“, das ergründet, wie das Trauma, das Maria Schneider als junge Schauspielerin durch die improvisierte Vergewaltigungsszene bei den Dreharbeiten von „Der letzte Tango von Paris“ erlitt, deren Leben prägte.
Außerdem berichtete sie von den Herausforderungen der Übersetzung von „Und ich werde Dich nie wieder Papa nennen“ von Caroline Darian, der Tochter von Gisèle Pelicot, das sie zusammen mit Michaela Meßner aus dem Französischen ins Deutsche übertrug. Begriffe wie „soumission chimique“ („chemische Unterwerfung“), mit dem man im Französischen das Wehrlos-Machen durch K.O. Tropfen bezeichnet, gibt es im Deutschen nicht.
Als Weirauch das Buch übersetzte, war sie in Frankreich, und der Prozess lief noch. „Ich konnte nie länger als zwei Stunden pro Tag an dem Text arbeiten. Es war psychisch zu anstrengend. Es braucht sehr viel Selbstfürsorge bei einer solchen Arbeit“. Am Ende bleibt als Fazit: Für diese Art von Übersetzungen müsste es einen Belastungszuschlag geben.
Römern
Ein letztes Mal steht Karin Schmidt-Friderichs auf der Bühne im Frankfurter Römer, um zu verkünden, wer den diesjährigen Buchpreis erhält. Ein letztes Mal erfährt auch sie als Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erst in dem Augenblick, als sie die Urkundenmappe öffnet, wer es geworden ist.
Sicher nicht zum letzten Mal aber wird die Mainzer Verlegerin, die ihr Amt nach sechs Jahren an den Verleger Sebastian Guggolz übergibt, seelenruhig und selbstverständlich vor der deutschsprachigen Buchbranche gendern – was, wann immer hier zuletzt dieser Preis verliehen wurde, irgendwo bei irgendwem im Publikum zu kurzem Schnauben führte, je nach dem, wo man saß.
Im vergangenen Jahr römerte der leer ausgegangene Autor Clemens Meyer aus dem Kaisersaal und beschimpfte auf seinem Weg Jury und Buchpreisträgerin Martina Hefter, die Erinnerung an diesen ekligen Augenblick hing wie ein Schatten über der diesjährigen Feierstunde – aber die Stimmung blieb dann an diesem Montagabend vor der Messe konzentriert und friedlich. Auch wenn es, wie die diesjährige Juryvorsitzende Laura de Weck erklärte, in der preisgekrönten True-Crime-Expedition „Die Holländerinnen“ von Dorothee Elmiger und auch den fünf anderen nominierten Romanen in unterschiedlichster Weise um Gewalt geht.
Der Applaus für Thomas Melles Leben-Sterben-Wünschen-Buch „Haus zur Sonne“ schien vielleicht ein paar Augenblicke länger und ein paar Grad wärmer gewesen zu sein, als bei den anderen, bei Kaleb Erdmann („Die Ausweichschule“) meldet sich ein Fanclub im Saal, in Erinnerung aber bleibt, bis zum nächsten Jahr, vor allem der Satz der Autorin Christine Wunnicke, deren Liebesroman „Wachs“ von zwei Anatominnen im vorrevolutionären Paris erzählt: „Jedes Buch, was in einer historischen Zeit über Frauen schreibt, die etwas machen, was ihnen eigentlich nicht gestattet ist, ist per definitionem ein feministisches Traktat.“