Als Gennaro Cirillo den schwarzen Mercedes Vito die Serpentinen der engen Bergstraßen in Italiens Provinz Lucca hochfährt, ist es weit nach 22 Uhr. Stockduster. Die Chromornamente an den Seiten seines Leichenwagens blitzen auf. Schroffe Felswände und mächtige Eichen, die die grellen Scheinwerferkegel immer wieder erfassen, stehen bedrohlich dicht an der Straße. „Wir beeilen uns ein bisschen, die schließen für uns extra auf und machen den Herd an“, sagt Cirillo nach einem kurzem Telefonat zu seinem Sohn Francesco, der neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat. Kurz darauf parkt er den Leichenwagen vor einem pittoresken Gasthof.
Den beiden Männern wird ein riesiges Steak, scharf angebraten, begleitet von regionalem Gemüse, duftenden Rosmarinkartoffeln und einem kräftigen Rotwein serviert. „Die nächsten Tage werden für uns sehr anstrengend, wir müssen bei Kräften bleiben“, sagt Cirillo.
Die beiden Männer sind gern gesehene Gäste. Auch dann noch, wenn die Küche eigentlich schon längst geschlossen hat. Denn in dem Gasthof wissen alle, dass die beiden sich auf einer besonderen Reise befinden. Vater und Sohn Cirillo bringen acht exhumierte Überreste italienischer Soldaten zurück zu ihren Familienangehörigen in den unterschiedlichsten Regionen Italiens. Sie übergeben die etwa 70 bis 80 Zentimeter großen Gebeinsärge persönlich. Sie enthalten manchmal die sterblichen Überreste der Gefallenen, mitunter befinden sich militärische Orden darin. Eingewickelt sind die Särge in eine italienische Flagge.
Obwohl sie noch einen langen Weg vor sich haben, müssen die beiden Bestatter bei jedem Halt Zeit einplanen. „Die Angehörigen sind immer ergriffen, sehr gerührt, dass ihre gewaltsam getöteten Verwandten nach so vielen Jahren aus Deutschland nach Italien zurückkehren, dort endlich Ruhe finden“, sagt Gennaro Cirillo: „Wir fahren eigentlich nie weiter, ohne über die Familiengeschichte zu sprechen, das Schicksal des Soldaten, die Umstände des Todes und einen kleinen Imbiss, wenigstens einen Kaffee mit den Angehörigen zu nehmen.“
4788 italienische Kriegstote wurden in Frankfurt bestattet
Diese Reise liegt nun schon einige Jahre zurück. Vater und Sohn haben sich damals die 4000 Kilometer lange Fahrt hinter dem Steuer geteilt. Sie betreiben gemeinsam die Agenzia funebre Italiana, ein italienisches Bestattungsinstitut in Frankfurt-Rödelheim, das bis zum Ausbruch der Covid-Pandemie regelmäßig mit der Rückführung beauftragt wurde. Seither übernimmt diese Aufgabe das italienische Militär. Weil aber seit Anfang Oktober wieder in Frankfurt, Hamburg und Berlin die sterblichen Überreste italienischer Soldaten exhumiert, nach Bologna überführt und dort dem italienischen Militär übergeben werden, steigen in Bestatter Cirillo immer wieder die Erinnerungen an die Aufgabe hoch, die mit so vielen Begegnungen und emotionalen Erlebnissen verbunden war.
Vier Gedenkstätten für italienische Soldaten gibt es in Deutschland. „Der italienische Staat beabsichtigt, seine etwa 40.000 Kriegstoten, die z.Zt. an über 2000 verschiedenen Stellen des alten Reichsgebiets beigesetzt sind, in mehreren größeren Begräbnisstätten in Deutschland zusammenzufassen“, vermerken die Frankfurter Magistratsakten vom März 1954. Die Suche nach den Verstorbenen sollte den Hinterbliebenen in Italien durch diese Übereinkunft beider Länder erleichtert und der Besuch der Gräber ermöglicht werden. In Hamburg, Berlin, München und eben auf dem Friedhof Frankfurt-Westhausen sind so in den 1950er Jahren Gedenkstätten für italienische Soldaten, Zwangsarbeiter und einige zivile Opfer entstanden.
Gennaro Cirillo, Inhaber des Bestattungsunternehmens Agenzia funebre Italiana Pietät Cirillo, auf dem Cimitero di Guerra Italiano, dem Ehrenfriedhof für italienische Kriegsopfer auf dem Gelände des Friedhofs WesthausenFrank Röth
4788 italienische Kriegstote wurden von 1954 an in Frankfurt bestattet. Den Tod gefunden hatten sie zwischen 1943 und dem Kriegsende 1945 aber in ganz anderen Regionen, im Ruhrgebiet etwa, in Rheinland-Pfalz oder in Niedersachsen. Aus den ursprünglichen Gräbern waren sie exhumiert, in kleinen Särgen nach Frankfurt gebracht und auf dem italienischen Soldatenfriedhof in Frankfurt-Westhausen gemeinschaftlich bestattet worden. In ähnlicher Anzahl und auf gleiche Art und Weise wurden Abertausende italienische Kriegsopfer auf die italienischen Ehrenfriedhöfe in Hamburg, Berlin und München umgebettet.
„Die Rückführung unserer Kriegstoten nach Italien hat eine zutiefst symbolische und menschliche Bedeutung“
Inzwischen hat allein das italienische Bestattungsinstitut von Gennaro Cirillo etwa 80 Leichname in Frankfurt abermals exhumiert und nach Italien überführt. Die leeren Gräber bleiben nach der Überführung zurück, versehen mit einer Plakette auf dem Grabstein, „Rimpatriato“, „in die Heimat zurückgekehrt“.
Die Architektur und die Anlage der italienischen Soldatenfriedhöfe ist in allen vier Städten sehr ähnlich. Den Angehörigen der Opfer sollte durch die Zusammenlegung an zentralen Orten in den 1950er Jahren der Besuch der Gräber ermöglicht, eine gemeinsame Andacht erleichtert werden.
Ein gut sechs Meter hohes, steinernes Kreuz, ein ebensolcher Altar, mehrere Grabfelder, Abertausende flach liegende Pultsteine, auf denen die Namen sowie die Geburts- und Todesdaten der italienischen Kriegstoten stehen, in einigen Fällen sogar noch mit schwarz-weißen Erinnerungsfotos versehen. Alles geometrisch akkurat, mit Flaggenmasten angeordnet, uniform, möglichst ehrenvoll, geprägt durch den historisch-militärischen Kontext. Pietät, Respekt vor religiösen Riten und Gebräuchen, würdevolles Abschiednehmen von einem Verstorbenen: Hinter R. I. P., lateinisch requiescat in pace – Ruhe in Frieden –, verbirgt sich der Wunsch nach ungestörter Grabesruhe für einen geliebten Menschen.
„Die Rückführung der sterblichen Überreste unserer Kriegstoten nach Italien hat für den italienischen Staat und für die betroffenen Familien eine zutiefst symbolische und menschliche Bedeutung. Italien übernimmt damit Verantwortung für seine Geschichte, ehrt die Opfer und setzt ein starkes Zeichen gegen das Vergessen“, ist sich der italienische Generalkonsul in Frankfurt, Massimo Darchini, sicher. „Gerade in einer Zeit, in der das Thema Krieg in Europa leider wieder in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt ist, sehen wir diese Aufgabe als umso wichtiger an. Die Erinnerung an das Leid vergangener Kriege mahnt uns, wie zerbrechlich Frieden ist, und sie verpflichtet uns, mit allen Mitteln für Verständigung, Dialog und ein gemeinsames Europa einzutreten.“
Auf Spurensuche der Vorfahren
Von den Lebensgeschichten und Schicksalen der Menschen zu erfahren, deren sterbliche Überreste er überführte, hat auch Cirillo geprägt. So erinnert er sich noch gut an die Begegnung mit einem jungen Studenten namens Andrea aus der Nähe von Florenz. Dieser erfuhr durch Erzählungen der Verwandtschaft von seinem Großonkel, der „irgendwo in Deutschland“ im Krieg gefallen sei. Viel mehr wusste der junge Mann zu Beginn seiner ganz persönlichen Ahnenforschung nicht. Gemeinsam mit seiner Tante kam er extra mit dem Zug aus Italien angereist, um bei der Exhumierung ihres Verwandten in Frankfurt-Westhausen in stillem Gedenken dabei sein zu können. Zu diesem Zeitpunkt lag schon eine intensive Spurensuche hinter dem jungen Mann. Erste Schreiben richtete er an das italienische Verteidigungsministerium in Rom. Mit Informationen von dort suchte er über das Internationale Rote Kreuz in Genf und den internationalen Suchdienst für die Opfer des NS-Regimes in Bad Arolsen weiter. Über das italienische Generalkonsulat in Frankfurt erhielt er schließlich die Bestätigung, dass sein Großonkel auf dem Soldatenfriedhof in Frankfurt-Westhausen begraben liege. Die Familie entschied, die sterblichen Überreste nach Italien zurückbringen zu lassen. Mit der Überführung wurde damals Gennaro Cirillo durch das italienische Generalkonsulat beauftragt.
Ein Kranz und Kerzen am Grab eines 1945 gefallenen italienischen Soldaten auf dem Cimitero di Guerra Italiano.Frank Röth
Andrea ist es gelungen, die letzten Jahre im Leben, aber auch die Umstände des Todes seines Großonkels zu rekonstruieren. Dass Marschall Badoglio am 8. September 1943 den Kriegsaustritt Italiens erklärte und das Land fortan nicht mehr zu den Achsenmächten zählte, sondern damit zum Gegner des NS-Regimes wurde, ist gesicherte Erkenntnis historischer Forschung. Im äußerst brutalen Kampf gegen die „italienischen Verräter“ töteten Wehrmachtssoldaten mehr als 25.000 italienische Soldaten, Zivilisten und Partisanen.
Nicht weniger unmenschlich und perfide ging das NS-Regime mit Gefangenen um, die ins deutsche Reich deportiert wurden. „Italienische Militärinternierte“ nannte man sie. Durch diesen Terminus umgingen die Nazis schlicht die „Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen“, die selbst Hitler 1934 noch anerkannt hatte. Denn der Gewahrsamsstaat verpflichtete sich darin, die Gefangenen nicht zu Arbeit in der Rüstungsindustrie einzusetzen. Aber genau das war das Schicksal Abertausender italienischer Kriegsgefangener, die als Zwangsarbeiter zu äußerst gefährlicher, gesundheitsschädlicher Arbeit gezwungen wurden, etwa in chemischen Fabriken, die Munition herstellten.
Zwangsarbeit für die Wehrmacht
Der Wehrpass und verschiedene Dokumente von Andreas Großonkel Dante belegen seinen Patriotismus, seine militärische Karriere im Kampf für seine Heimat Italien, aber dokumentieren auch die Grausamkeit, die er in Deutschland erleiden musste, bis zu seinem Tod.
Als Gebirgsjäger des „Alpini-Regiments“ geriet er nach Kämpfen gegen Wehrmachtsverbände in der Nähe von Eppan, Südtirol, noch im September 1943 in Gefangenschaft. Von nun an bestand seine Identität nur noch aus einer fünfstelligen Nummer. Zuerst wurde er als Militärinternierter in ein Basislager in Limburg verschleppt, von dort nach Forbach im Schwarzwald verlegt, im Januar 1944 schließlich mit seinem Arbeitskommando nach Ludwigshafen. Briten und Amerikaner hatten Mannheim und Ludwigshafen als wichtige Industriezentren identifiziert, bekämpften die dortigen Produktionsstätten der chemischen Industrie mit ihrer Luftwaffe durch Brand- und Flächenbombardements.
Am Morgen des 21. Juli 1944 starb Dante D. bei einem Bombenangriff auf Ludwigshafen. „Verschüttung durch Fliegerangriff“ hieß das im Nazi-Amtsdeutsch auf dem Totenschein mit Hakenkreuz. Nicht vermerkt wurde, dass die italienischen Militärinternierten, die in Zwangsarbeit Munition für die Wehrmacht herstellen mussten, bei Fliegerangriffen keinen Zugang zu den Luftschutzbunkern erhielten. Drei Tage nach dem Angriff wurde der Leichnam auf einem Friedhof in Ludwigshafen-Mundenheim beerdigt. Dort wurden die sterblichen Überreste exhumiert und am 25. Februar 1957 auf dem italienischen Ehrenfriedhof abermals bestattet.
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Zurück in die Heimat
Durch Andreas umfangreiche Nachforschungen erfuhr die Familie von den tragischen Einzelheiten, unter denen der Großonkel in Deutschland ums Leben kam. Seine sterblichen Überreste konnte Cirillo der Familie übergeben. Das war im Jahr 2019. Angeführt vom Bürgermeister machte sich eine kleine Prozession auf den Weg zum Friedhof. Die Familie, begleitet vom Priester sowie drei Offizieren einer Militärdelegation aus Turin, versammelten sich in der Trauerhalle zum Friedhof der Gemeinde Maglione. Ein letzter Gruß der Familie, ein stiller Salut der Kameraden. Soldat Dante ruht seitdem in der italienischen Heimat. Gennaro Cirillo und Sohn Francesco hatten sich damals Zeit genommen, um diesem besonderen Moment beizuwohnen. Erst danach machten sie sich wieder auf den Weg zur nächsten Übergabe nach Pontassieve, von dort weiter nach Rom, nach Forenza, Bari und etwas südlich von Carovigno.
Gennaro Cirillo, glühender Eintracht-Fan, kam im Jahr 1966 mit seinen Eltern nach Deutschland, da war er zwei Jahre alt. Das Bestattungsgeschäft hat er in mehreren Betrieben gelernt, bevor er seinen eigenen Meisterbetrieb eröffnete. Spezialisiert ist er auf internationale Überführungen, natürlich vor allem nach Italien.
„Letzte Woche hatte ich zwei Überführungen nach Sizilien, kommende Woche eine weitere nach Neapel“, sagt er. „Die Menschen verstarben mit über 80 oder 90 Jahren hier in Frankfurt, kamen nach dem Krieg nach Deutschland und verbrachten hier den Großteil ihres Lebens. Aber viele haben in ihrem Testament verfügt, dass sie in ihrer Heimat Italien bestattet werden möchten“, erklärt Gennaro Cirillo. Auch wenn die Überführungen für ihn zum Arbeitsalltag dazugehören, war die Aufgabe, die sterblichen Überreste der gefallenen Soldaten zu überbringen, für ihn immer mit einer besonderen Ehre verbunden.
Während der Covid-Pandemie waren persönliche Übergaben nicht mehr möglich, das Prozedere für die Überführung der gefallenen Soldaten wurde dauerhaft geändert. „Inzwischen werden die Särge von einem anderen Unternehmen nur noch nach Bologna überführt und dort an das italienische Militär übergeben, das dann die Übergabe an die Verwandten mit einer gemeinsamen Trauerveranstaltung organisiert“, beschreibt Cirillo die veränderten Bedingungen. „Sollte sich das wieder ändern, bringe ich meine Erfahrung und Zuverlässigkeit gerne wieder ein“, so Cirillo weiter.
Dieser Tage finden wieder Exhumierungen auf den Ehrenfriedhöfen in ganz Deutschland statt. Auch die sterblichen Überreste zweier Soldaten, die bisher auf dem Soldatenfriedhof in Frankfurt-Westhausen bestattet waren, sollen an das italienische Militär übergeben werden, um zu ihrer letzten Reise aufzubrechen – zurück in die Heimat.