Wie es die anderen machen: Moderne Wehrpflicht in Europa Training für den Ernstfall – daran sollen sich bald auch wieder wehrpflichtige beteiligen. Foto: dpa

Skandinavier und Balten haben moderne Wehrdienstmodelle, die von der Gesellschaft getragen werden. Deutschland ist dafür zu unentschlossen.

Wie Deutschland künftig die Wehrpflicht gestaltet, darüber streiten die Regierungsparteien von CDU, CSU und SPD heftig – sowohl innerhalb ihrer eigenen Kreise wie auch miteinander. Ein Blick vor allem auf die skandinavischen und baltischen Länder, aber auch nach Österreich würde ihnen zeigen: Verschiedene Wehrdienstmodelle funktionieren in Europa, könnten sogar übernommen werden – wenn Deutschland digital fortschrittlicher wäre, den Ernst der sicherheitspolitischen Herausforderungen begreifen und entschlossener reagieren würde sowie Bürokratie abbauen würde.

Welche Wehrdienstmodelle gibt es in skandinavischen Staaten?

In Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden werden alle Frauen und Männer vom 17. Lebensjahr an für den Wehrdienst erfasst. Alle potenziellen Rekruten erhalten einen digitalen Fragebogen, der ausgefüllt werden muss. Wer dann als wehrdienstfähig gilt, wird zur verpflichtenden Musterung einbestellt. Wen Ärzte als tauglich beurteilen, kann einberufen werden: In Schweden neun bis 15 Monate – abhängig davon, welchem militärischen Bereich der Rekrut zugeordnet wird. In Norwegen sind in der Regel 12 Monate zu dienen. Finnland hat eine allgemeine Dienstpflicht für Männer zwischen 18 und 60, Frauen können freiwillig dienen. Wehrdienst ist für 165, 255 oder 347 Tage zu leisten, je nach der Funktion des Soldaten. Alle Länder ziehen ihre Wehrdienstler später zu Übungen heran. Es ist möglich, den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern und Ersatzdienst zu leisten. Schweden beruft jährlich bis zu 8000 Frauen und Männer ein, Norwegen bis zu 10 000. Maßgeblich für die Einberufung sind die Faktoren Fitness, Gesundheit, die Motivation sowie der schulische Hintergrund. 30 Prozent eines gemusterten Jahrgangs werden in Skandinavien einberufen.

Gelöbnisfeier in Berlin Foto: picture alliance/dpa

Warum ist der Wehrdienst in Skandinavien beliebt?

Die Regierungen informieren – auch in der Schule – vorab junge Menschen und ihre Eltern intensiv über den Wehrdienst. Ärzte, Psychologen und Militärs bemühen sich bei der Musterung, die Stärken, Interessen und Qualifikationen künftiger Soldaten herauszufinden, um individuell passend einzusetzen. In den Einheiten und Verbänden gibt es ein Förderprogramm für junge Führungskräfte, dass von Unternehmen unterstützt wird: so soll ein Wechsel aus einer Führungsposition des Militärs in die Wirtschaft gefördert werden. Die skandinavische Gesellschaft ist den Streitkräften gegenüber positiv eingestellt.

Wie machen es die baltischen Staaten?

In Estland, Lettland und Litauen werden Männer vom 18. Lebensjahr an verpflichtend, Frauen freiwillig erfasst und gemustert. Estland beordert in der Regel alle wehrdienstfähigen Männer für acht bis elf Monate in die Kasernen. Etwa 70 Prozent eines Geburtsjahrganges werden so militärisch ausgebildet. Lettland setzt auf Freiwilligkeit bei Männern. Finden sich so nicht genügend, um den Bedarf der Armee zu decken, werden die Rekruten nach einem computergestützten Losverfahren für elf Monate eingezogen. Wie auch in Litauen, wo Wehrdienstleistende neun Monate lang einrücken. Freiwillig Wehrdienstleistende erhalten in Lettland und Litauen Vorteile: höherer Sold, kostenloses Studium, Mitsprache bei Stationierungsort. In allen Ländern ist es möglich, aus Gewissensgründen den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Die gesellschaftliche Zustimmung zum Wehrdienst gilt aber in allen baltischen Ländern sehr hoch.

Wie macht es Österreich?

Alle Männer zwischen 17 und 50 sind wehrpflichtig. In einer Volksbefragung votierten 59,7 Prozent der wahlberechtigten 6,4 Millionen Österreicherinnen und Österreicher dafür, die Wehrpflicht beizubehalten. Zum Grundwehrdienst werden Rekruten bis zum 35. Lebensjahr für sechs Monate einberufen. Frauen können freiwillig Wehrdienst leisten. Es ist möglich, den Kriegsdienst zu verweigern.

Warum sind die skandinavischen und baltischen Wehrpflicht-Modelle nicht problemlos auf Deutschland zu übertragen?

Vor allem zwei Gründe sprechen dagegen: Die Entschlossenheit der jeweiligen Gesellschaft, die eigenen Werte auch notfalls selbst militärisch zu verteidigen. Zudem fehlt in Deutschland vor allem die digitale Infrastruktur, um Wehrpflichtige im Abgleich zwischen Einwohnermelde-, Standesämtern und der Bundeswehr zu erfassen. Das politisch oftmals vorgebrachte Argument, es fehle auch die Infrastruktur für die Musterung von Wehrpflichtigen geht ins Leere: Die Bundeswehr nutzt mehr als 350 Liegenschaften im ganzen Bundesgebiet. Zumindest für einen Übergang könnten viele davon auch nach oftmals geringfügigem Umbau genutzt werden, um Wehrpflichtige zu mustern.