Nun ist also passiert, was lange überfällig war: Die Ratingagentur Fitch hat die Bonität französischer Staatsanleihen von AA- auf A+ heruntergestuft. Das ist immer noch sehr schmeichelhaft. Wäre der französische Staat ein Privatunternehmen, hätte er ein Rating der Stufe C verdient: ungenügende Bonität mit akuter Gefahr eines Zahlungsausfalls. Denn der französische Staat – und nicht nur er – ist stark überschuldet. Die Staatsfinanzen sind außer Kontrolle, und die Hoffnung, sie in absehbarer Zeit wieder einhegen zu können, ist sehr gering.

Laut Internationalem Währungsfonds belief sich die Bruttoschuld des französischen Staates letztes Jahr auf 113,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist beinahe doppelt so viel wie in Deutschland, wo die Staatsschuldenquote 63,9 Prozent des BIP betrug. Mit 5,8 Prozent des BIP war das französische Haushaltsdefizit mehr als doppelt so hoch wie das deutsche (2,8 Prozent). Die Quoten für Staatsausgaben und -einnahmen lagen mit 57,2 und 51,4 Prozent an der Spitze aller OECD-Länder (Deutschland: 49,5 und 46,8 Prozent). Laut IWF werden in Frankreich Defizit und Staatsschuld bis zum Jahr 2030 auf 6,2 beziehungsweise 128,4 Prozent steigen. Auch für Deutschland erwartet der IWF bis 2030 eine Verschlechterung der Staatsfinanzen, allerdings mit einem geringeren Defizit von 4,4 Prozent und einer niedrigeren Staatsschuld von 74,9 Prozent des BIP.

Die Überschuldung ist in Frankreich nicht nur auf den Staat begrenzt. Laut OECD war der private Sektor im Jahr 2023 mit 268 Prozent des BIP verschuldet. In Deutschland kam die Privatwirtschaft dagegen auf nur 171 Prozent. In Frankreich hatten alle privaten Sektoren – Haushalte, Unternehmen und Finanzinstitute – deutlich höhere Verschuldungsquoten als in Deutschland. Ganz Frankreich lebt also in hohem Maße auf Pump.

Frankreich ist heillos überschuldet

In seiner letzten Rede vor dem französischen Parlament am 8. September hat der inzwischen abgewählte Premierminister François Bayrou kein Blatt vor den Mund genommen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist schwach:

„Gemessen am BIP pro Kopf liegt unser Produktionsrückstand gegenüber unseren nächsten Nachbarn, unseren deutschen oder belgischen Nachbarn, bei 15 Prozent, und gegenüber unseren niederländischen Nachbarn bei über 30 Prozent. Und das trotz der in den letzten Jahren im Rahmen von France 2030 unternommenen Anstrengungen in den Bereichen Unternehmensgründung, Beschäftigung und Investitionen.“

Die Staatsfinanzen sind längst außer Kontrolle:

„Frankreich hat seit 51 Jahren keinen ausgeglichenen Haushalt mehr. Seit 51 Jahren steigen die Ausgaben jedes Jahr, es kommt immer wieder zu Defiziten und Schulden. Jedes Jahr geben wir mehr aus, als uns zur Verfügung steht, oft sogar noch viel mehr … Es ist zu einem Reflex geworden. Schlimmer noch, zu einer Sucht. Wir haben uns angewöhnt, die alltäglichen Ausgaben unseres Landes, unsere täglichen Lebenshaltungskosten, unsere öffentlichen Dienstleistungen, unsere Renten und unsere Sozialversicherungsbeiträge auf Kredit zu finanzieren! Wir geben also systematisch zu viel Geld aus!“

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Und der Schuldendienst frisst Frankreich auf:

„Die ganze Arbeit, der ganze Erfindungsreichtum des Landes, um ein Jahr lang Fortschritte zu erzielen, all dieser Fortschritt, den wir für unser Volk, für unsere Kinder wollen, wird vollständig an unsere Gläubiger gezahlt! Und die Mehrheit unserer Gläubiger sind Ausländer. Zwangsläufige und völlig unproduktive Ausgaben. Kein einziger neuer Arbeitsplatz, keine einzige verbesserte Dienstleistung. Nicht eine einzige neue Ausrüstung. Unser Land arbeitet, glaubt, reicher zu werden, und wird jedes Jahr ärmer. Es ist eine stille, unterirdische, unsichtbare und unerträgliche Blutung.“

Die Politik ist handlungsunfähig

Bayrou wollte ein Sparpaket im Umfang von 44 Milliarden Euro – unter anderem durch das Streichen von Feiertagen und Kürzungen bei Sozialausgaben – auf den Weg bringen. Das Haushaltsdefizit sollte damit bis 2029 auf 3 Prozent des BIP gedrückt werden. Doch das Parlament stürzte seine Minderheitsregierung. Am 10. September, also zwei Tage nach dem Misstrauensvotum, ernannte Präsident Emmanuel Macron seinen Vertrauten und vorigen Verteidigungsminister Sébastien Lecornu zum nächsten Premierminister. Am gleichen Tag blockierten Demonstranten Autobahnen und Bahnstrecken in mehreren Städten. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen Mülltonnen in Brand gesetzt wurden und die Polizei Tränengas einsetzte. Die Botschaft war klar: Auch der dritte Premierminister in einem Jahr wird die Staatsfinanzen nicht stabilisieren können. Um länger im Amt zu bleiben als seine Vorgänger wird er wohl kostspielige Zugeständnisse an die Sozialisten im Parlament machen, die Steuern für die „Reichen“ erhöhen und die hart erkämpfte Rentenreform rückgängig machen wollen.

Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. Minderheitsregierungen schleppen sich dahin, bis der Präsident das Parlament (erneut) auflöst – da im Jahr 2027 ein neuer Präsident gewählt werden muss, wird es das Ende seiner Amtszeit im Jahr 2029 kaum erreichen. Zu längst überfälligen Reformen haben die Minderheitsregierungen nicht die Kraft, und ob es nach der Präsidentschaftswahl besser wird, ist mehr als fraglich. Denn die französiche Bevölkerung widersetzt sich hartnäckig jeder Einschränkung der üppigen Staatsleistungen.

Der Schutzschild aus Brüssel …

Wäre Frankreich auf sich allein gestellt, wären seine Staatsanleihen am Markt unverkäuflich, die Zentralbank müsste einspringen, durch die Ausgabe neuen Geldes zur Finanzierung des Staates würde die Inflation steigen und die Währung würde abwerten. Im Teufelskreis von Währungsabwertung und Inflation ginge der Staat bankrott und müsste sich seiner Schulden durch Währungsreform entledigen. 

Doch Frankreich ist Mitglied der Europäischen Währungsunion. In der Eurokrise von 2009/10 galt dies für die damals überschuldeten Staaten zunächst als Nachteil. Ihre in Euro denominierte Staatsschuld schien den Fremdwährungsschulden von Entwicklungsländern ähnlich. Doch die „No Bailout“-Klausel in den EU-Verträgen erwies sich als Papiertiger. Es kam zu umfangreichen, von anderen EWU-Staaten finanzierten Rettungspaketen, und die Europäische Zentralbank sprang ein. Mit seinem im Jahr 2012 abgegebenen Versprechen, zum Schutz des Euro zu tun, „whatever it takes“, stellte der damalige EZB-Präsident Mario Draghi die Europäische Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz für zahlungsunfähige Eurostaaten auf. Für die Ratingagentur Fitch ist daher die Mitgliedschaft Frankreichs in der Europäischen Währungsunion ein wesentlicher Grund für die immer noch hohe Einschätzung der Bonität des französischen Staates.

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Doch Frankreich ist mit den Krisenländern der ersten Eurokrise nicht vergleichbar. Damals waren relativ kleine Länder an der Peripherie der Eurozone, wie Griechenland, Irland oder Portugal, betroffen. Die Europäische Union sorgte zwar für neues Geld, erlegte ihnen aber drakonische Anpassungsprogramme auf. Und die Schwergewichte Deutschland und Frankreich garantierten die Bonität des Euro. 

… und Frankfurt

Aber schon als der italienische Anleihemarkt im Jahr 2012 ins Trudeln kam, erwiesen sich die Brüsseler Rettungsinstrumente als stumpf. Die italienische Staatsverschuldung war einfach zu groß, um von anderen Euroländern gestemmt werden zu können. Und die Italiener verweigerten sich wirtschaftspolitischen Auflagen der EU. Bis heute hat Italien die Gesetzgebung für den Europäischen Stabilitätsmechanismus deswegen nicht ratifiziert. Zum Glück sprang die EZB im Rahmen ihrer Programme der „Quantitativen Lockerung“ als Käufer italienischer und anderer Staatsanleihen ohne wirtschaftspolitische Auflagen ein. Die Beschwörung einer angeblich drohenden Deflation machte es möglich.

Der französische Markt für Staatsanleihen ist ähnlich groß wie der italienische. Beide Märkte teilen sich den dritten Platz in der Weltrangliste, nach den USA und Japan. Mit den in der Eurokrise entwickelten Rettungsmechanismen kann Frankreich – wie Italien – daher nicht gerettet werden. Zumal sich Frankreich wohl noch heftiger als Italien jeglichem „Diktat“ aus Brüssel oder Frankfurt widersetzen würde. Und unkonditionierte Anleihekäufe der EZB wären heute kaum mehr vermittelbar, ist doch Inflation jetzt ein größeres Risiko als Deflation.

Die Augen richten sich daher auf ein neues Instrument, das sich die EZB im Jahr 2022 geschaffen hat, um Euroländern mit maroden Staatsfinanzen beizuspringen. In perfektem Orwellschen Neusprech hat sie es „Transmission Protection Instrument (TPI)“ genannt. „Ungerechtfertigte“ Ausweitungen der „Spreads“ (der Zinsabstände zu Bundesanleihen) sollen durch Käufe der Anleihen des betroffenen Landes eingehegt werden, um die Wirksamkeit der Geldpolitik zu wahren. 

Allerdings hat sich die EZB bei der Anwendung Fesseln angelegt. Gegen das betroffene Land darf kein EU-Verfahren wegen übermäßiger Defizite im Staatshaushalt laufen, es dürfen keine schwerwiegenden makroökonomischen Ungleichgewichte bestehen, und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen muss gewährleistet sein. Frankreich erfüllt keine dieser Voraussetzungen. Die Aktivierung von TPI für Frankreich würde folglich die Glaubwürdigkeit der EZB als Garant für Preisstabilität vollends zerstören.

Eurobonds gegen Force de frappe

Wahrscheinlich ist daher, dass die lange geforderte gemeinsame Verschuldung der Eurostaaten mit „Eurobonds“ wieder aufs Tapet kommt. Mit dem in Coronazeiten lancierten NextGenerationEU-Fonds (NGEU) wurde das Eis gebrochen. Wie das Coronavirus damals kann die Bedrohung Europas durch Russland als Begründung für die gemeinsame Verschuldung herangezogen werden. Auf diese Weise könnte Frankreich die Finanzierung seiner Verteidigungsausgaben problemlos „outsourcen“. Sollte das nicht reichen, kann auch mehr mit Eurobonds abgedeckt werden. Denn die Solvenz des französischen Staates ist sicherlich im Interesse der europäischen Sicherheit.

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Bis zu NGEU hat sich Deutschland vehement den Eurobonds widersetzt. In der Coronapandemie hat Kanzlerin Angela Merkel dann der gemeinsamen Verschuldung als einmaliger und befristeter Aktion zugestimmt. Der Umgang mit der Schuldenbremse hat gezeigt, dass Kanzler Friedrich Merz bei den Staatsfinanzen mindestens so flexibel ist wie Angela Merkel. Zumal Frankreich eine Karte ausspielen kann, auf die Deutschland schon lange scharf ist: die Force de frappe. Vor dem Hintergrund zunehmender Unsicherheit über die Verlässlichkeit des atomaren Schutzschilds der USA hat der französiche Staatspräsident Emmanuel Macron schon im Frühjahr 2025 angeboten, den französischen atomaren Schutzschirm auf andere europäische Länder auszuweiten. Die deutsche Bundesregierung hat sich interessiert gezeigt. Ihre Zustimmung zur Finanzierung eines erheblichen Teils der französischen Staatsschuld mit Eurobonds könnte den „Deal“ besiegeln.

Tag der Abrechnung

Mit einem Umfang von rund 1,3 Billionen Euro ist der deutsche Markt für Staatsanleihen ungefähr halb so groß wie der französische oder italienische. Um mit den anderen großen Euroländern gleichzuziehen, gibt es also noch viel Luft nach oben. Wegen seiner relativ stabilen Staatsfinanzen stellte Deutschland bis dato den fiskalischen Anker für den Euro. Mit der Emission von Eurobonds kommt die Ankerkette zwar unter Spannung, aber sie wird nicht sofort brechen. Das erlaubt der Politik sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, auf Zeit zu spielen und die Finanzprobleme weiter zu verschleppen. Doch der Bruch wird schließlich kommen. Spätestens dann wird das Vertrauen in den Euro verloren gehen, der Wechselkurs (insbesondere zu Gold und Bitcoin) abstürzen und die Inflation nach oben schießen. Die Währungsunion kann den Tag der Abrechnung des Anleihemarkts mit den außer Kontrolle geratenen französischen Staatsfinanzen zwar verschieben, aber nicht vermeiden.