Wie kann man seine Verehrung für einen großen Autor besser in Worte fassen, als ein Buch zu schreiben, in dem er selbst zum Helden wird? Genau das hat Michael Klein getan. Er ist Übersetzer und Herausgeber, hat schon mehrere Kostbarkeiten aus der englischen und amerikanischen Literatur für deutsche Leser zugänglich gemacht. Im Morio Verlag hat er auch ein besonderes Mark-Twain-Buch herausgebracht: „Mark Twain in München“. Und nun hat er sich selbst hingesetzt und den großen Autor aus Hannibal mit einem kleinen Roman gewürdigt.
Und was böte sich da aus dem Leben von Samuel Clemens (1835–1910), der unter seinem Pseudonym Mark Twain weltberühmt wurde, besser an als jene Reise, die Clemens im Jahr 1902 antrat, um an der Universität von Missouri einen Ehrendoktortitel entgegenzunehmen? Eine Gelegenheit, die Mark Twain nutzte, um auf einer Zwischenstation in seinem Kindheitsort Hannibal noch einmal auf den Spuren seiner frühen Jahre zu wandeln.
Und damit auch auf den Spuren von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, den beiden Burschen, die ihn weltberühmt gemacht haben. Eine Reise, die tatsächlich so stattfand und auch in Zeitungsbeiträgen dieser Zeit bestens dokumentiert ist.
Denn die Journalisten der örtlichen Zeitungen nahmen die Gelegenheit natürlich wahr, den berühmten Gast in diesen Tagen zu begleiten, zu interviewen und vor allem all jene Begegnungen zu schildern, in denen Sam, wie ihn Michael Klein konsequent nennt, den Menschen begegnete, die in seiner Kindheit tatsächlich seine Freunde waren und sich – literarisch verwandelt – dann in den beiden Büchern wiederfanden, mit denen Tom und Huck zu Weltruhm kamen.
Die Orte der Kindheit
Natürlich ist es so: Die besten Geschichten erleben wir alle in unserer Kindheit. Weil wir da noch für alles offen sind, auf jedes Abenteuer versessen, wagemutig, wie wir es nie wieder im Leben sein werden, wenn wir eventuell selbst Verantwortung für Familie und Kinder haben. Und so wird Sams Reise nach Hannibal, das in seinen Büchern zu St. Petersburg wurde, auch eine Reise in die wilden und überwältigenden Emotionen seiner Kinderzeit.
Alles mit berührenden Begegnungen, von denen der 66-Jährige weiß, dass er diese Menschen aus seiner Kindheit nun wohl zum letzten Mal sieht. Dass er nie wieder zurückkommen wird nach Hannibal, das sich in den 50 Jahren zuvor schon gewaltig verändert hat.
Und dennoch findet er im alten Ortskern die Erinnerungsstätten seine Kindheit vor. Selbst das kleine Haus, in dem seine Familie lebte, bevor sie der Pleite des Vaters wegen selbst dieses Häuschen verlassen musste, steht noch. Jeder Mark-Twain-Leser kennt es. Hier nämlich beginnen „Tom Sawyers Abenteuer“. Und da alles so säuberlich belegt ist und Mark Twain auch in seinen Erinnerungen darüber erzählte, erfährt man, wenn man mit Michael Klein den gealterten Autor begleitet, wie viel von Sams Kindheit tatsächlich in den beiden Büchern steckt, die ihn bis heute berühmt machen.
Denn es sind diese Geschichten aus der Kindheit, die uns prägen. Die unseren Blick schärfen für das, was wichtig ist im Leben. Für die Macken und Stärken der Menschen. Und dazu kommt natürlich: Sams Geschichte ist eine Aufsteiger-Geschichte. Als er in Hannibal aufwuchs, war er der Sohn eines armen Mannes, der auch als Vater nicht fähig war, Wärme und Gefühle zu zeigen.
Dass der kleine Sam es schaffen würde, aus dieser Armut herauszukommen, war ihm nicht vorgezeichnet. Außer dem unbändigen Willen, es trotzdem zu versuchen. Und so rückt auch sein Leben auf dem Mississippi ins Bild. Noch einmal darf er sogar ans Steuer eines alten Flussdampfers.
Dimensionen der Kindheit
Kleins Geschichte ist durchglüht von Erinnerungen, Melancholie und unbändig wieder aufbrechender Freude an den Streichen der Kindheit. Noch einmal darf Sam sich jung fühlen und den Jubel der Menschen genießen, die längst stolz sind auf diesen Sohn der Stadt, der Bücher schrieb, wie sie kein anderer amerikanischer Autor zu dieser Zeit schreiben konnte.
Weshalb ihn oberflächliche Journalisten nur zu oft als Humoristen abstempelten, weil sie den Ernst, die Wildheit und Rauheit des wirklichen Lebens in seinen Büchern nicht begreifen konnten. Eher den launigen Vortragsredner sahen, der Mark Twain ja auch war. Auch in Hannibal und Columbia nutzt er diese Gabe ja weidlich, um sein Publikum zu faszinieren und zu amüsieren.
Würden heutige Autoren gezwungen sein, sich auch in großen Vortragsreisen im Land behaupten zu müssen: Die meisten würden besser und lebendiger schreiben. Denn Schreiben und Sprechen gehören zusammen. Was eigentlich jeder Leser weiß. Wenn der Text nicht beim Lesen im inneren Ohr zum echten Gespräch des Autors wird, wird der Text dröge, sperrig und farblos.
Aber wem sagt man das? Michael Klein weiß es. Und nutzt die Gelegenheit ausgiebig, den Ereignissen Klang und Farbe zu geben. Manchmal kriecht er selbst in die Gedankenwelt des alten Autors, der hier mit allen Sinnen noch einmal genießt, wie frei man sein kann, wenn man in die Gefühle der eigenen Kindheit eintauchen kann.
Denn natürlich liegt die ganze Zeit auch die Stimmung des Abschieds über allem. Noch waren die Entfernungen in diesem Amerika des Jahres 1902 gewaltig, kam man nicht einfach mit dem Flugzeug in ein paar Stunden von Riverdale, New York, nach Missouri. Das brauchte schon eine zweitägige Eisenbahnfahrt im Pullman-Wagen.
Das dritte Buch
Aber dazu kam dann noch, dass Sam durchaus spürte, dass sein Leben mit Olivia und den Kindern ebenso von Vergänglichkeit überschattet war. Michael Klein beendet die Reise zu Tom und Huck (die dann tatsächlich auch in den nächtlichen Abenteuern Sams auftauchen) nicht mit dem umjubelten Abschied von St. Louis, sondern mit dem anschließenden Urlaub der Familie Clemens in York, Maine, wo Sam noch einmal anknüpfen kann an seine beiden großen Tom-und-Huck-Romane, tatsächlich sogar einen dritten Band fast fertigstellt in einem furiosen Erinnerungsfeuer.
Doch er wird ihn nie beenden, sondern den Flammen übergeben. Denn in York kommt die Krankheit zu Ausbruch, die seine geliebte Livy die nächsten Jahre belasten würde. Das Leben schlägt mit aller Wucht zu. Aber wer diesen Mark Twain gelesen hat, weiß, dass hinter den manchmal witzigen und humorvollen Erzählungen eigentlich immer der ganze Ernst des Lebens steckt, die Erfahrungen eines Jungen, der schon aus Kindheitstagen weiß, wie schnell man auf der Nase liegen kann und die kühnsten Träume scheitern können.
Genau deshalb funktionieren seine Geschichten bis heute. Kann sich jeder darin wiederentdecken. Mitsamt seinen alten Ängsten, Träumen, Gutgläubigkeiten und unerhörten Frechheiten, aus denen für gewöhnlich ein echtes Jungenleben besteht. Sehr zur Verzweiflung der geliebten Mütter, die um ihre Rasselbande berechtigterweise fürchten und bangen.
Die Landschaften unserer Gefühle
Nur dass Sams Mutter wohl noch eine Nummer besser war und sich von ihren wilden Jungen nicht mehr wild machen ließ.
Wenn einer für den Galgen vorgesehen ist, wird er schon nicht ertrinken. Den Spruch glaubt man gern, und auch dass sie ihn mehrfach gesagt hat, wenn ihr Sam wieder einmal mit zerrissenen Klamotten nach Hause kam, fix und fertig von den Abenteuern am Fluss, der durch die großen Romane Mark Twains rauscht. So wird Kleins Roman auch – wie er selbst betont – eine Reise in die innere Topografie seines Helden.
Denn die Orte der Kindheitsabenteuer werden natürlich zu den Landschaften, in denen unsere Gefühle zu Hause sind. Und wie sehr das einen alten Mann beleben kann, das merkt dieser Sam sehr bald. Der seine ganz eigenen Abenteuer erlebt, während ihn die Leute seiner Vaterstadt frenetisch feiern und bejubeln.
Wer schon lange nicht mehr in Twains Bücher geschaut hat, für den ist Michael Kleins kleiner Roman eine echte Einladung, es wieder zu tun, sich mit allen Sinnen einzulassen auf diesen Erzähler, der mit seinem jungenhaften Blick ein Erzählen in die amerikanische Literatur gebracht hat, das es vorher nicht gab. Und das schon seine Zeitgenossen begeisterte. Und seine späteren Leser genauso.
Michael Klein „Lebt wohl, Tom und Huck“ Morio Verlag, Heidelberg 2025, 20 Euro.