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ARCHIV - 04.07.2025, USA, Los Angeles: Demonstranten, die gegen die Politik von Präsident Donald Trump protestieren, hören den Rednern im Grad Park gegenüber dem Rathaus zu. (zu dpa: „Los Angeles ruft Notstand aus - Hilfe für Migranten“) Foto: Jill Connelly/FR172085 AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++Niemand ist illegal: Demonstranten, die gegen die Politik von Präsident Donald Trump protestieren. © Jill Connelly/dpa

„Alles auf Anfang“ beleuchtet, wie Erinnerungspolitik und Zugehörigkeit in Deutschland neu gedacht werden sollen.

Max Czollek und Hadija Haruna-Oelker schreiben gegen eine deutsche Lieblingsgewohnheit an, die sie mit höflicher Grausamkeit freilegen: die Verwechslung von Gedenken und Selbstberuhigung. Ihre Diagnose ist unbequem, ihr Ton bewusst zweistimmig, ihr Ziel eine neue Erinnerungskultur, die nicht die triumphale Wendung zum Guten der einstigen Tätergesellschaft feiert, sondern die langen Schatten der Gewalt und die Geschichte des Widerstands zusammen denkt.

Der Text ist eine Art Logbuch der Jahre 2010 bis 2025: Sarrazin, Chemnitz, NSU-Versagen, Halle und Hanau, der 7. Oktober und die verhärteten Positionen seither, der Aufstieg der AfD, die sprachliche Verrohung der Migrationsdebatte. Doch das Buch ist mehr als eine Chronik. Es ist von vorne bis hinten ein methodischer Vorschlag. Czollek, der vom postmigrantischen Theater her kommt, und Haruna-Oelker, die Journalistin in Hörfunk und Print (etwa der FR), lassen die Leserschaft eintauchen in einen produktiven Dialog, der politische Analyse betreibt, aber auch die private Verletzlichkeit nicht aus den Blick geraten lässt.

Das Buch

Max Czollek/Hadija Haruna-Oelker: Alles auf Anfang. S. Fischer 2025. 240 S., 24 Euro.

Die stärksten Passagen sind jene, in denen sie die Mechanik der deutschen Erinnerungspolitik offenlegen: die freundliche Inanspruchnahme jüdischer Stimmen zur Beglaubigung nationaler Läuterung; das Ritualisierte der großen Sätze („Nie wieder ist jetzt“), die immer dann zu einer Art Beschwörungen werden, sobald die praktische Konsequenz ausbleibt, die Unfähigkeit, Nazismus zu erkennen, wenn er nicht in Geschichtsbildern, sondern in Behördenakten, Ermittlungsroutinen und Alltagsgewalt auftritt. Diese Kritik ist nicht neu, aber selten wurde sie so klar mit einer positiven Agenda verbunden, wie man sie in dem Buch findet.

Denn Czollek und Haruna-Oelker wollen keine neue Liturgie, sie wollen eine andere Grammatik der Zugehörigkeit. „Deutschsein“ erscheint hier als historisch junges, politisch aufgeladenes Konstrukt, dessen Exklusivität bis heute nachwirkt. Dem setzen sie keine identitäre Gegen-Essenz entgegen, sondern ein Ethos: Gleichheit im Unterschiedlichsein. Es ist der Versuch, die Errungenschaften des sogenannten postmigrantischen Jahrzehnts – dass Kultur nicht mehr erklärt, sondern gelebt wird – in eine politische Praxis zu übersetzen, die ohne moralische Überheblichkeit auskommt und doch wehrhaft ist.

Sie erklären nicht nur, wie das rechte Lager Diskurse verschiebt, sie zeigen, wie bereit die Mitte oft ist, diese Verschiebungen zu normalisieren. Wer heute „Zustrombegrenzung“ sagt, bekommt ein Kapitel Sprachkritik gratis dazu – eine Erinnerung daran, dass Narrative Gesellschaften verändern können.

Das Buch schont auch die eigenen Milieus nicht. Czollek und Haruna-Oelker wissen, dass auch progressive Räume blind sind: für Hierarchien, für Ausschlüsse, für eine Rhetorik der Reinheit, die Bündnisse unmöglich macht. Ihre Antwort lautet nicht: weniger Ansprüche. Ihre Antwort lautet: andere Ansprüche. Mehr Beziehungsarbeit, mehr gemeinsame Wissensspeicher – und eine juristisch nüchterne Wehrhaftigkeit, die auch das Undenkbare denkt: Institutionen umbauen, Feinde der Freiheit rechtlich begrenzen, bevor sie die Republik umbauen.

Am Ende bleibt ein Arbeitsauftrag. Eine neue Erinnerungskultur, sagen Czollek und Haruna-Oelker, muss drei Dinge zugleich können: Sie muss die Kontinuität der Gewalt benennen, die Traditionen des Widerstands würdigen und im Heute Bündnisse ermöglichen, die das Land nicht belehren, sondern verändern.

Alles auf Anfang? Der Anfang ist nie mehr der, der er einmal war. Die Unmittelbarkeit ist verloren, dafür gibt es einen Gewinn, die Einsicht, was alles besser hätte sein können. Die beiden haben ein kluges Buch vorgelegt, in dem sie in einem wunderbaren Ton über die Welt nachdenken. Empathisch und klar. Man möchte jeder, jedem ans Herz legen, tief in das Buch hineinzulesen.