Eine kurze Geschichte, daneben ein Foto. So viel und so wenig nimmt jede der 50 porträtierten Personen im neuen Buch „Humans of Stuttgart“ ein. Es ist ein bunter Querschnitt durch die Stadtgesellschaft, den das Team hinter dem Buch eingefangen hat und dabei auf unkonventionelle Weise einen feinfühligen Zugang zu den Menschen, die in dieser Stadt leben, schafft. Je mehr Porträts man liest, desto mehr scheint die Menschlichkeit hervor, die diesem Projekt innewohnt.
Persönliche Geschichten, die Menschen bewegen
Angestoßen vom Stuttgarter Verein Literally Peace, einem ursprünglich deutsch-syrischen Schreibkollektiv, startete das Projekt „Humans of Stuttgart“ 2023. Das Vorbild: das New Yorker Original „Humans of New York“, erzählt die Autorin und Ethnologin Anjuli Aggarwal, eine der Initiatorinnen. „Von Anfang an war es so geplant, dass wir erst wie im Original in New York Porträts online veröffentlichen, in unserem Fall auf Instagram, dazu eine Ausstellung machen, und dass ein Buch entstehen soll“, so Aggarwal. Die gleichnamige Schau zum Buch „Humans of Stuttgart“ ist derzeit im Stadtpalais zu sehen, als Sonderausstellung parallel zu „Stuttgart Hatırası“, in der es um die Geschichten türkischer Einwandererfamilien geht.
Blick ins Buch Foto: HOS/HasanMalla
Das Buch ist nun die Möglichkeit tiefer einzutauchen, da es 20 Porträts mehr als die Ausstellung abbildet und „die Gelegenheit bietet, auch nach dem Ende der Ausstellung sich damit in Ruhe auseinanderzusetzen. Ein Buch ist langlebiger und vielleicht auch präsenter als ein Instagram-Kanal, dessen Inhalte irgendwann verschwinden, sobald der Kanal inaktiv wird“, sagt Lisa Drechsel, die als Kommunikationsdesignerin gemeinsam mit Hasan Malla die Ausstellung und das Buch gestaltet hat.
„Humans of Stuttgart“ gelingt es auf verschiedenen Ebenen die menschliche Seite der Stadt einzufangen. Einerseits durch die Darstellung: Jede der 50 Personen wurde auf Augenhöhe fotografisch porträtiert, manche an erkennbaren Orten in der Stadt. Und andererseits durch die eigenwillige Textgestaltung. Es gibt nur eine Geschichte, keine Eckdaten, keine Namen, kein Alter, keine Überschrift oder ähnliche herkömmliche Einordnungsfakten, die beim Lesen Struktur geben könnten. So muss man sich ganz auf das von der Person Erzählte und das Foto einlassen. „Die einzige Bedingung war, dass es eine persönliche Geschichte ist“, sagt Anjuli Aggarwal.
Stuttgart ist mehr als „Daimler, Spätzle und VfB“
Da ist zum Beispiel Story 03: Man sieht eine junge Frau in einem Park. Auf der Seite neben dem Foto schildert sie, wie sie als junges Mädchen in Albanien mit einer lebenslangen Erkrankung zu kämpfen hatte, wie sie heute in Deutschland damit zurecht kommt, und dass sie hofft, eines Tages Teil der Lösung für diese Krankheit zu sein. In Story 20 schildert eine Frau, wie sie vor kurzem überraschend ihren Job verloren hat und dass sie ohne ihre Freunde und Familie in dieser Zeit verloren gewesen wäre. Ein Mann erzählt in Story 40 wiederum eine Geschichte aus seiner Jugend, als er einmal in den Bergen alleine 600 Kühe hüten musste. Story 44 handelt von Angst und Zurückweisung im Dating-Kontext.
Was „Humans of Stuttgart“ aber außerdem sehr besonders macht, ist die Herangehensweise bei der Erstellung. Eine Gruppe von rund 20 jungen Menschen mit Migrations- und Fluchtbiografie haben die Texte und Fotos erstellt, die Interviews geführt. Dafür seien sie geschult worden, erzählt die Initiatorin.
„Humans of Stuttgart“ ist beim Stuttgarter Verlag Prima Publikationen erschienen. Foto: HOS/Hasan Malla
„Das Buch ist durch die Arbeit eines Kollektivs von rund 20 Menschen entstanden, die ehrenamtlich Interviews, Texte und Fotos geliefert haben. Die meisten von ihnen sind keine Profi-Autoren, sondern haben damit erste journalistische Erfahrungen gesammelt.“ Rund die Hälfte der Texte musste ins Deutsche übersetzt werden, da die Gespräche in anderen Sprachen stattfanden, sagt Aggarwal. So ist das Werk ein Zeugnis echter Teilhabe und macht Menschen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft unsichtbar bleiben, zu aktiven Gestaltenden ihrer Stadt.
Diesem Team hinter dem Buch sind zwei Doppelseiten gewidmet, auf denen sie ihre Eindrücke von der Arbeit an „Humans of Stuttgart“ schildern, wie zum Beispiel Genia: „Diese Interviews haben mir gezeigt, wie mutig Menschen sein können, wie sie kämpfen, hoffen, weiterleben. Das hat mich sehr beeindruckt.“ Oder Eliza: „Ich mache mit, um zu zeigen, dass Stuttgart mehr ist als Daimler, Spätzle und VfB.“
Ungewisse Zukunft des Vereins
Die Porträtierten stammten aus dem eigenen Umfeld der Autoren und Autorinnen, aus Vereinen oder wurden im Supermarkt oder auf der Straße angesprochen, erzählt Anjuli Aggarwal. Insgesamt sind so bislang rund 70 Porträts von Menschen in Stuttgart entstanden, die allesamt auf dem zugehörigen Instagram-Account veröffentlicht wurden.
Gefördert wurde das Projekt über zwei Jahre vom Land Baden-Württemberg, mit insgesamt 55 000 Euro. Nun soll aber nicht Schluss sein. Man sei an weiteren Fördermöglichkeiten dran, um das Projekt fortzuführen. „Online gibt es in dem Sinne keinen Abschluss wie beim Buch“, sagt Drechsler. „Wir würden gerne mit weiteren Formaten experimentieren und ‚Humans of Stuttgart’ auf Tiktok und in Videos weiterführen“, gibt Anjulia Aggarwal einen Ausblick. Doch das sei reines Wunschdenken, denn geplante Einsparungen im Kulturbereich geben derzeit wenig Hoffnung: „Aktuell droht die institutionelle Förderung unseres Vereins Literally Peace wegzubrechen“, sagt sie.
Menschen der Stadt
Ausstellung „
Humans of Stuttgart“ ist noch bis zum 30. November im Stadtpalais Stuttgart zu sehen.
Buch
„Humans of Stuttgart“, Literally Peace e. V., erschienen im Stuttgarter Verlag Primapublikationen, 144 Seiten, 25 Euro.