Eine Fachkonferenz in der Hansestadt zeigt das enorme Tempo, mit dem die Künstliche Intelligenz in alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche vordringt. Hamburg ist gut aufgestellt, um die Chancen zu nutzen, die damit verbunden sind, meinen die Initiatoren des Kongresses, Ragnar Kruse und Petra Vorsteher.
Schon vor zehn Jahren waren Ragnar Kruse und Petra Vorsteher bei vielen Debatten rund um die Digitalisierung weit voraus. Das Unternehmen Smaato, das sie mitbegründet hatten, vermittelt in elektronischen Auktionen weltweit innerhalb von Millisekunden Werbung von Unternehmen zur Ausspielung per Smartphone an die Betreiber von Mobilfunknetzen – für technologische Laien nur schwer zu verstehen.
Nach dem Verkauf ihrer Smaato-Anteile stiegen die beiden als Investoren in die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz ein, Englisch Artificial Intelligence (AI). Sie bauten rund um die AI.Group ein Netzwerk von Unternehmen und Aktivitäten zur Finanzierung, Wissensvermittlung und tieferen gesellschaftlichen Verankerung von Künstlicher Intelligenz auf. Und genau da, im Emporio-Tower, einem der früheren Firmensitze von Smaato, fand am Montag der AI.Summit mit mehr als 450 Teilnehmern statt. „Mit dem AI.Summit wollen wir zeigen, dass Deutschland Vorreiter sein kann, wenn Technologie, Unternehmergeist und gesellschaftliche Verantwortung zusammenkommen“, sagt Vorsteher, Co-Gründerin der AI.Group. „Gleichzeitig möchten wir verdeutlichen, wie Künstliche Intelligenz verantwortungsvoll eingesetzt werden kann, um Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig zu stärken.“
Schwer zu fassen bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz ist nicht nur deren Omnipräsenz bereits heute in alle Lebensbereiche hinein, sondern vor allem das Tempo der damit verbundenen Innovationen. „Wir leben in der spannendsten Zeit der Menschheitsgeschichte, denn wir verfügen jetzt über eine Technologie, die alles verändern kann“, sagte Kruse in seiner Präsentation vor 150 zumeist jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörern – sie könne „die Wirtschaft erfolgreicher, das Leben glücklicher und die Gesundheit besser machen“. Hauke Hansen, Mitbegründer des AI.Funds, sagte: „Künstliche Intelligenz ist kein Hype, das ist eine neue Industrielle Revolution.“ Künstliche Intelligenz sei mittlerweile international mit Abstand der größte Wirtschaftssektor für Investitionen.
Nur drei Jahre nach dem Auftreten in der breiteren Öffentlichkeit habe der Chatbot ChatGPT bereits wöchentlich rund 800 Millionen Nutzer. Der Markt für Künstliche Intelligenz umfasse in diesem Jahr rund 638 Milliarden US-Dollar, bis 2034 seien es voraussichtlich 3,68 Billionen Dollar, sagte Kruse. Rund 27 Billionen Dollar Wertschöpfung werde durch Künstliche Intelligenz in den kommenden Jahren in der Weltwirtschaft ausgelöst, das Sechsfache des jährlichen deutschen Bruttoinlandsproduktes. Unter anderem sei damit eine Reduktion von jährlich bis zu 5,4 Milliarden Tonnen Kohlendioxid denkbar, das ist etwa ein Achtel des jährlichen menschengemachten Ausstoßes an Treibhausgasen.
Künstliche Intelligenz werde Berufsbilder radikal verändern und viele Tätigkeiten überflüssig machen, sagte Kruse. Voraussichtlich rund 85 Millionen Arbeitsplätze fielen durch KI-Anwendungen aus heutiger Sicht in absehbarer Zeit weg, 97 Millionen neue Arbeitsplätze allerdings könnten entstehen: „Die Arbeitswelt muss sich darauf einstellen. Wir brauchen eine ganze Armee von talentierten Menschen, die sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen.“
Rund 20.000 Startup-Unternehmen gebe es für die Anwendungen und Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz derzeit in Europa, rund 2000 in Deutschland und 269 in Hamburg. Etwa 10.000 Studentinnen und Studenten würden an den Hamburger Hochschulen zum Thema Künstliche Intelligenz ausgebildet, sagte Kruse. Die Hansestadt habe bereits ein sehr gutes Fundament, ein starkes „Ökosystem“, um als Standort eine relevante Größe bei der Künstlichen Intelligenz zu sein und zu bleiben. Aber Europa insgesamt sei der Nutzung und dem Ausbau der Technologie nach wie vor „viel zu langsam“. Die USA und China investierten „signifikant mehr“ in diesen Bereich, und auch Staaten wie Dubai – das Kruse in der vergangenen Woche mit einer Delegation besucht hat – zeigten wesentlich mehr Engagement und Tempo als Akteure und Treiber der Künstlichen Intelligenz.
Am Rande der Konferenz präsentierten eine Reihe von Startup-Unternehmen und jüngeren Firmen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz im Emporio Tower ihre Geschäftsmodelle – von FlowShare, das die Dokumentation von Prozessen in Unternehmen vereinfacht, über Neuland. AI, das Systeme der Künstlichen Intelligenz für den Mittelstand entwickelt, bis zu Zive, das eine große Bandbreite von KI-Instrumenten für Mitarbeiter anbietet. Dealcodes unterstützt mit seinen KI-Produkten die Vertriebsteams in Unternehmen. Das Hamburger Unternehmen 1KOMMA5° wiederum will die Energiewende durch die Vernetzung etlicher Akteure voranbringen, durch eine steigende Transparenz am Markt für erneuerbare Energien und durch die damit verbundenen Kostenvorteile etwa für Privathaushalte.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland.