Seine Smartwatch hat Sören Pellmann womöglich das Leben gerettet. Im Juli war der Fraktionschef der Linken auf Dienstreise in Nordrhein-Westfalen. Als er abends im Hotel einen Druck im Brustbereich spürte, schaute er auf seine Uhr. Sie zeigte einen Puls von 159 an. Pellmann hatte einen Herzinfarkt.
Eine Stunde nach seiner Ankunft im Krankenhaus wurde ihm ein Stent in eine Arterie gesetzt. „Das war krass. Hätte ich die Anzeichen nicht ernst genommen, hätte ich die Nacht wohl nicht überlebt“, hat Pellmann nun der „Welt“ über diesen Tag erzählt.
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Dabei sah Pellmann eigentlich kein großes Herzinfarkt-Risiko bei sich. „Mit 48 Jahren hatte ich all das nicht auf dem Zettel. Ich rauche nicht und trinke selten Alkohol“, sagt er. Er berücksichtigte nicht, welche Belastung ein Spitzenjob im Bundestag mit sich bringt. Inzwischen benennt er diese Risikofaktoren klar: „Ungesunde, unregelmäßige Ernährung, zu wenig Bewegung und Stress.“
In Bundestags-Sitzungswochen habe man locker zehn, elf, zwölf Termine am Tag, keine Pausen, keine Auszeit. Man hetze von Gespräch zu Termin zur Rede im Parlament. Durch soziale Medien sei das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen, gestiegen.
Sören Pellmann, Fraktionsvorsitzender der Linken, hat erst nach einem Herzinfarkt die Gefahren seines Berufs erkannt.
© dpa/Niklas Graeber
Wie Sören Pellmann geht es vielen Spitzenpolitikern im Bundestag. Dass ihre Arbeit sie krank macht, bemerken sie erst, wenn es zu spät ist. Der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber ignorierte eine Darmerkrankung und überlebte nur knapp. Den früheren SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert trieben seine politische Arbeit und die polarisierte Debattenkultur in eine Depression. Er verabschiedete sich aus dem Parlament und suchte bei einer Wanderung über die Alpen Abstand zur Politik.
Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung mahnt nun „Reformbedarf im Maschinenraum der Demokratie“ an, damit die Abgeordneten ihren Aufgaben als Volksvertreter weiter gerecht werden können. Als Input dafür verwendeten die Studienautoren allerdings bezeichnenderweise lange Interviews mit nach der Bundestagswahl ausgeschiedenen Abgeordneten.
Viele aktive Politiker scheuten sich, „über Belastung, Stress oder Überforderung zu sprechen“, sagt Luisa Hofmeier, Leiterin des Projekts „Beruf:Politik“ der Hertie-Stiftung. Sie wollten in der Öffentlichkeit nicht als schwach oder faul erscheinen. Auch weil die meisten ihr Mandat als Privileg empfänden, hätten sie an sich den Anspruch, allem und jedem gerecht zu werden. „Die hohen Anforderungen stellen sie meist nicht infrage. Eher suchen sie die Verantwortung bei sich.“
Künast spricht Klartext, Amthor nicht
So ist es bei der Vorstellung der Bertelsmann-Studie am vergangenen Mittwoch auch nicht der junge Abgeordnete Philipp Amthor (CDU), der dem Publikum erklärt, wie hart der Politikerberuf ist. Stattdessen spricht Renate Künast (Grüne) Klartext, die den Bundestag 2025 nach 23 Jahren verlassen hat.
„Der Betrieb ist anders geworden“, sagt Künast, „und zwar nicht nur in der Politik“. Das gesellschaftliche Tempo habe sich verändert, dasselbe gelte für die Lobbyarbeit und auch die Kommunikation. Künast beschreibt, wie sich der mediale Druck auf die Abgeordneten in den vergangenen zehn Jahren erhöht habe.
Wir merken, dass die Vereinbarkeit eines möglichen Mandats mit dem Privatleben für junge Menschen, die sich für Politik interessieren, ein riesiges Thema ist.
Luisa Hofmeier, Leiterin des Projekts „Beruf:Politik“ der Hertie-Stiftung
„Du kriegst mehr Klicks, wenn du hasst“, sagt die 69-Jährige, der man die langen Kämpfe gegen Hasskommentare in den sozialen Netzwerken anmerkt. „Das alles färbt auf den Bundestag ab“, sagt Künast. Das verändere die Politik und sei ein scharfer Angriff, übrigens auch auf kommunale Beamte, die sich aus der Politik verabschiedeten.
Der gut gelaunte Amthor schlüpft an diesem Abend in die Rolle des Parlamentarischen Staatssekretärs im neuen Digitalministerium. „Wir haben ganz neue Formate des direkten Austausches“, schwärmt Amthor, der am Morgen auf Instagram ein Video über seine Krawatten gepostet hatte.
„Politik lebt davon, dass man die Leute dort abholt, wo sie gesellschaftlich unterwegs sind.“ Werde er auf der Straße nach Selfies gefragt, komme als Begründung, dass Amthors letzter Auftritt in der ZDF-Satiresendung „heute-show“ so gut gewesen sei.
Verbesserungsvorschläge bleiben vage
Künast geht es weniger um Krawatten, sie spricht lieber über verkrustete Strukturen im Parlament, die weit von einer Digitalisierung entfernt sind. In der Bertelsmann-Studie moniert auch die frühere Linken-Abgeordnete Anke Domscheit-Berg, dass noch immer nicht alle Dokumente des Bundestages maschinenlesbar sind, weshalb es manchmal schwer sei, die relevanten Textstellen zu finden. Auch hybride Ausschuss-Sitzungen sind im Bundestag noch kein Standard.
Die frühere CDU-Abgeordnete Yvonne Magwas wünscht sich weniger Doppelsitzungswochen und keine namentlichen Abstimmungen nach 20 Uhr mehr. Doch überwiegend sind auch die ausscheidenden Abgeordneten der Meinung, dass eine hohe Arbeitsbelastung zum Berufsbild gehört.
„Man muss bereit sein, viel zu arbeiten, wenn man was erreichen will. Und das heißt eben kein Acht-Stunden-Tag, keine freien Wochenenden“, meint die frühere Grünen-Abgeordnete Kordula Schulz-Asche. „Ich glaube, das weiß man aber vorher und man stellt sich darauf ein.“
Parteien haben zu wenig Nachwuchs
Hofmeier ist skeptisch, ob diese Duldsamkeit dauerhaft tragfähig ist. Als Leiterin des Projektes „Beruf:Politik“ versucht sie, junge Menschen für den Politikbetrieb zu begeistern und die politische Kultur zu verbessern. Denn auf kommunaler und auf Landesebene tun sich die Parteien inzwischen zunehmend schwer, Kandidaten für die Parlamente zu finden.
„Wir merken, dass die Vereinbarkeit eines möglichen Mandats mit dem Privatleben für junge Menschen, die sich für Politik interessieren, ein riesiges Thema ist“, sagt sie. „In Workshops fragen uns die Teilnehmer: Habe ich dann noch Zeit für Sport oder Freunde? Wie viele Arbeitsstunden muss ich in ein politisches Ehrenamt investieren? Angesichts des hohen Zeitaufwands sagen uns immer wieder Interessierte: Das ist nichts für mich.“
Die Grünen-Abgeordnete Hanna Steinmüller will ihren Sohn aufwachsen sehen. Dafür nimmt sie in Kauf, dass er manchmal der Öffentlichkeit ausgesetzt ist.
© dpa/Kay Nietfeld
Die politische Kultur im Bundestag wirkt sich dabei durchaus auf die unteren Ebenen aus, betont Hofmeier: Der Bundestag habe eine Vorbildfunktion für die Landes- und Kommunalparlamente. Auch von Kommunalpolitikern würde heute erwartet, dass sie für alles ansprechbar seien und in den sozialen Medien stets sendeten.
Im November plant Hofmeier deshalb einen Workshop zum Thema Resilienz. Die Programmteilnehmer sollen dabei lernen, „wie sie mit Stress und Anfeindungen umgehen, den Spagat mit Studium oder Arbeit meistern und damit psychischen Belastungen vorbeugen“, erklärt Hofmeier.
Junge Abgeordnete fordern mehr Familienfreundlichkeit
Ob ein Zwölf-Stunden-Tag für Parlamentarier wirklich zwangsläufig ist, stellen inzwischen aber auch immer mehr junge Bundestagsabgeordnete infrage. „Wenn ich danach nach Hause komme, fällt es mir schwer, den Modus zu wechseln“, sagt Hanna Steinmüller, die für die Grünen Berlin-Mitte im Bundestag vertritt. „Ich muss dann erst mal umschalten, um nicht jede kritische Frage meines Mannes als politischen Angriff zu deuten.“
Es dauere, bis das Adrenalin abgebaut sei. „Permanent unter Menschen zu sein und permanent zu senden, erschöpft. Eigentlich möchte ich dann mit niemandem mehr reden.“ Menschen mit chronischen Erkrankungen empfehle sie leider nicht, für den Bundestag zu kandidieren – obwohl deren Repräsentation wichtig sei.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) will die Vereinbarkeit von Familie und Mandat erhöhen.
© dpa/Kay Nietfeld
Eine bessere Vereinbarkeit des Abgeordnetenberufs mit der Familie fordert Steinmüller offensiv ein. Elternzeit gibt es für Abgeordnete nicht, also nimmt Steinmüller ihren Sohn oft mit in den Bundestag. Am 23. September hielt sie als erste Abgeordnete im Bundestag eine Rede mit Säugling im Tragetuch vorm Bauch.
Mit den Händen versuchte sie dabei das Gesicht ihres Sohnes zu verdecken, um seine Privatsphäre zu schützen. „Indem ich mein Kind zwei Tage in der Woche selbst betreue, ist es zwangsläufig sichtbarer. Ich möchte meinen Sohn auch in seinem ersten Lebensjahr sehen und nicht durchgängig von seinem Vater betreuen lassen“, betont sie.
Zusammen mit anderen jungen Müttern und Vätern hat sich Steinmüller im Sommer mit Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) zusammengesetzt, um mit ihr zu diskutieren, wie die Vereinbarkeit von Mandat und Familie verbessert werden kann.
Nach so vielen Sitzungswochen sehne ich mich manchmal nach einem Beruf mit normalen Arbeitszeiten.
Hanna Steinmüller, Abgeordnete der Grünen
Die Änderung der Geschäftsordnung hat bereits einen Fortschritt gebracht. Namentliche Abstimmungen können nach der vergangene Wochen beschlossenen Reform in der Regel nicht mehr kurzfristig beantragt werden. „Abgeordnete mit kleinen Kindern in Berlin haben nun mehr Verlässlichkeit, dass sie am späten Abend nicht noch dringend zur Abstimmung ins Plenum müssen, was sie vor große Aufgaben bei der Betreuung stellt“, lobt Steffen Bilger, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion.
„Wir schränken die Pöbelfreiheit ein“ Klöckner verteidigt härtere Bundestags-Regeln
In einem Brief an den Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses im Bundestag, Macit Karaahmetoglu (SPD), hat Klöckner vergangene Woche weitere Vorschläge gemacht, wie der Bundestag familienfreundlicher werden kann. Darin spricht sich Klöckner für mehr hybride Ausschusssitzungen, weniger „überlange“ Plenarsitzungen und möglichst keine direkt aufeinanderfolgenden Sitzungswochen aus.
Dass der Bundestag davon noch weit entfernt ist, hat sich gerade wieder gezeigt. In fünf der vergangenen sechs Wochen tagte der Bundestag. So viele Sitzungswochen in kurzer Folge gab es im Parlament schon lange nicht mehr. Nun seien alle wahnsinnig erschöpft, sagt Steinmüller. Das schlage auf die Stimmung.
Pellmanns neuer Luxus: 30 Minuten Mittagspause
„Das ist für uns als Abgeordnete nicht einfach, aber auch für alle, die im Bundestag arbeiten“, sagt Dirk Wiese, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. „Auch die Saaldiener mussten alle viel am Stück arbeiten.“ Die Kollegen wüssten jedoch, dass das wegen der vorgezogenen Neuwahl nötig war.
Besonders schwierig war diese Situation für Abgeordnete mit kleinen Kindern, deren Familien weit ab von Berlin leben. „Wir haben auch drei kleine Kinder“, sagt Steffen Bilger, der in Baden-Württemberg wohnt. „In so intensiven Zeiten habe ich ein schlechtes Gewissen meiner Frau gegenüber, die nun noch mehr abfedern muss. Es war nicht schön, meine Familie so wenig zu sehen.“ Doch auch Bilger ist überzeugt, dass der Sitzungsmarathon nötig war.
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Hanna Steinmüller hingegen lassen solche Erfahrungen an ihrem Beruf zweifeln. „Nach so vielen Sitzungswochen sehne ich mich manchmal nach einem Beruf mit normalen Arbeitszeiten, in dem es nicht so eine große Herausforderung ist, Zeit zu finden, meine Wäsche zu waschen.“ Sie sei sehr gerne Abgeordnete und wisse um die Gestaltungsspielräume und Privilegien – „aber wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich lieber weniger Geld verdienen und dafür mehr freie Abende mit meiner Familie haben“, sagt sie.
Steffen Bilger versteht diese Debatte nur bedingt. „Man kann bei einer solchen privilegierten Tätigkeit nicht mit einer 40-Stunden-Woche und Stressfreiheit rechnen“, sagt er.
Dirk Wiese empfiehlt jüngeren Kollegen, mehr auf sich selbst zu achten. „Ab und zu muss man in den Kalender sich selbst eintragen. Mit Freunden auf ein Konzert gehen und Fünfe grade sein lassen.“ Jeder habe Verständnis, wenn man sich mal eine Auszeit nehme. „Das hilft auch dabei, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben.“
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Sören Pellmann hat aus seinem Herzinfarkt Konsequenzen gezogen. Er fängt jetzt erst um acht statt um sechs Uhr zu arbeiten an und gönnt sich jeden Tag eine Mittagspause von 30 Minuten. „Das bringt spürbare Entspannung“, sagt Pellmann.