Die „Junge Union“ drückt ihre Frustration noch vergleichsweise leise aus. Auf der Plattform X veröffentlichte der Parteinachwuchs im laufenden Monat nur einen einzigen Tweet. Er lautet: „Dieser Koalitionsvertrag tut niemandem weh. Das klingt zwar gut, könnte aber ein Problem werden.“ Es handelt sich um das Zitat ihres Vorsitzenden Johannes Winkel.
Einige derer, die in den vergangenen Jahren als vehementeste Unterstützer von Friedrich Merz auftraten und das Etikett „Merz-Ultra“ voller Stolz trugen, zeigen sich aktuell enttäuscht bis verärgert von den Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen. Vor allem das Aufweichen der Schuldenbremse – und hier insbesondere die Bereitstellung von mehreren Hundert Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen – stößt auf Kritik.
Doch es geht auch um weniger bedeutende, dafür emotional aufgeladene Themen. Manche hatten sich von Merz ein hartes Vorgehen gegen jene Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erhofft, die im Februar gegen dessen historischen Tabubruch, die Inkaufnahme von AfD-Stimmen bei Bundestagsabstimmungen, protestiert hatten. Hunderttausende Demonstranten gingen kurz vor der Wahl auf die Straße, zogen auch vor das Konrad-Adenauer-Haus. Die Unionsfraktion wehrte sich mit einem umstrittenen Katalog aus 551 Fragen.
Doch keine Abschaffung von „Demokratie leben!“
Merz-Ultras hofften, die NGOs würden dafür von einer neuen, schwarz dominierten Bundesregierung abgestraft, zum Beispiel durch Abschaffung des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. Der Koalitionsvertrag zeigt, dass diese Hoffnung unbegründet war. Dort heißt es: „Die Unterstützung von Projekten zur demokratischen Teilhabe durch das Bundesprogramm ,Demokratie leben!’ setzen wir fort.“ Manche Hardliner sähen dies als Einknicken, andere gar als Verrat, heißt es aus der Fraktion.
Es gibt mittlerweile einen bestimmten Ton, auch in der Kritik von rechts außen an meiner Person, den nehme ich offen gestanden nicht mehr ernst.
Friedrich Merz, CDU
Verärgert sind nicht nur Parteifreunde, sondern auch publizistische Stimmen, die in der Vergangenheit für Merz getrommelt hatten. Etwa „Welt“-Herausgeber Ulf Poschardt. Dieser schrieb kürzlich, Merz und seine Vertrauten seien sich doch einig darin gewesen, dass die „kulturelle Dominanz rot-grüner Eliten, die mit Steuergeld oder Zwangsgebühren abgesichert sind, gebrochen werden müsse“. Aber statt nun gegen „die Genderwissenschaft“ sowie „antikapitalistischen Moralismus“ vorzugehen, drohe ein „Konglomerat etatistischer Steuergeldverbrennungen“, die nichts weiter seien als der kleinste gemeinsame Nenner jener Parteien, die sich „für die politische Mitte halten und längst im Sozialismus angekommen sind“. Ja, das steht tatsächlich in Poschardts Text: Die Union sei im Sozialismus angekommen.
Merz reagierte mit einer überraschend deutlichen Ansage gegen Poschardt: „Es gibt mittlerweile einen bestimmten Ton, auch in der Kritik von rechts außen an meiner Person, den nehme ich offen gestanden nicht mehr ernst.“
Der Verzicht eines wichtigen „Merz-Ultras“
Wesentlich schmerzhafter als die Polemik enttäuschter Meinungsmacher dürfte für Merz die Entscheidung des Merz-Ultras Carsten Linnemann sein, dem künftigen Kabinett fernzubleiben. Linnemann zählt zum Merz-Lager, seit er sich 2018, damals als Vorsitzender der „Mittelstands- und Wirtschaftsunion“, für den Politrückkehrer als CDU-Chef einsetzte und sich damit auch offen gegen dessen Mitbewerber Annegret Kramp-Karrenbauer sowie Jens Spahn stellte.
In den Folgejahren avancierte Linnemann gemeinsam mit Junge-Union-Chef Tilman Kuban und Philipp Amthor zu den engsten Unterstützern von Merz, die im Hintergrund, aber auch offen für Merz lobbyierten – und dies zu einer Zeit, als Merz in seiner Partei noch viel Widerstand erfuhr und zweimal hintereinander nicht Parteichef wurde.
Enge Vertraute: Friedrich Merz, Fraktionsvorsitzender der Union und CDU-Bundesvorsitzender (rechts), neben Carsten Linnemann, CDU-Generalsekretär.
© dpa/Michael Kappeler
Die Merz-Ultras versprachen sich Steuersenkungen, massiven Bürokratieabbau sowie eine „Entfesselung“ der Wirtschaft. Und sie glaubten, Friedrich Merz könne und werde all dies durchsetzen.
Emanzipiert sich Merz von seiner Fankurve?
Bereits 2022 warnten Kritiker in der eigenen Partei vor dem zunehmenden Einfluss dieser „Ultras“. Dennis Radtke, heutiger Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), erklärte damals, im Windschatten von Merz könne sich eine „gewaltige Unwucht in Fraktion und Partei zugunsten des Wirtschaftsflügels“ ergeben. Deshalb forderte er von Merz, dieser müsse sich „ein Stück weit von den Ultras in seiner Fankurve emanzipieren“.
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Möglicherweise geschieht dies gerade.
Der ehemalige CDU-Generalsekretär und langjährige Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz sieht das als positive Entwicklung: „Die Union hat bei der Bundestagswahl das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erhalten. Das ist eher ein Signal für Kurskorrekturen, statt darüber zu klagen, dass das eigene Programm im Koalitionsvertrag nicht zu 100 Prozent durchgesetzt werden konnte.“ Schließlich hätten lediglich 28,5 Prozent der Wähler für dieses Programm gestimmt.
Merz hat Loyalität und Unterstützung verdient.
Ruprecht Polenz, CDU
„Aus dem Schicksal der Ampel sollte jeder gelernt haben, dass öffentliches Streiten der Koalitionspartner zum Scheitern führt“, sagt Polenz. „Merz hat Loyalität und Unterstützung verdient. Die Lage war schon lange nicht mehr so ernst.“
Rückendeckung erhält der Bald-Kanzler auch von CDA-Chef Dennis Radtke. „Friedrich Merz tut in der extrem schwierigen Lage das absolut Richtige“, erklärt Radtke gegenüber dem Tagesspiegel. „Es geht jetzt nicht um fetzige Überschriften oder um Glaubenssätze von Wirtschaftsliberalen.“ Das Motto „CDU pur“ bedeute doch letztlich, in einer „historischen Stunde die Weichen richtig zu stellen, ebenso undogmatisch wie klar. Meine Erwartungshaltung ist, dass die Partei dies geschlossen und loyal unterstützt.“
Jens Spahn war nie „Merz-Ultra“
Im Gegensatz zu vielen anderen wertkonservativen Wirtschaftsliberalen seiner Generation ist Jens Spahn niemals „Merz-Ultra“ gewesen. Zwar eint beide eine starke Abneigung gegen die Merkel-Politik. Diese ist so offenkundig, dass Merkelgegner sowohl Merz als auch Spahn als Projektionsflächen nutzten.
Ansonsten standen beide in einem jahrelangen Konkurrenzverhältnis. 2018 traten sie im Kampf um den Parteivorsitz gegeneinander an, unterlagen jedoch Annegret Kramp-Karrenbauer. Als Merz es zwei Jahre später erneut versuchte, stärkte Spahn demonstrativ dessen Gegenkandidaten Armin Laschet den Rücken.
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Die Nachricht, Merz sehe seinen Rivalen Spahn nun offenbar für den machtvollen Posten des Fraktionschefs vor, könnte ein Signal an die eigenen Ultras sein, heißt es aus der Fraktion. Eine nachdrückliche Versicherung, dass die Union weiter für eine Entfesselung der Wirtschaft streite. Und dass sie – Überraschung – doch noch nicht im Sozialismus angekommen ist.