Am 19. Oktober wurde dem Historiker Karl Schlögel in der Frankfurter Paulskirche der renommierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht. Seine Dankesrede mit dem Titel „Von der Ukraine lernen. Verhaltenslehren des Widerstands“ rief kontroverse Reaktionen hervor. In unserer Debattenreihe „Pro und Contra“ greifen wir die Auseinandersetzung auf. An dieser Stelle folgt der Beitrag des BLZ-Redakteurs Thomas Fasbender. Die Einlassung des Publizisten und Generals a.D. Klaus Wittmann zum Thema lesen Sie hier.

Welche Assoziationen weckt eine Dankesrede für einen Friedenspreis, wenn sie mit den Worten „siegen lernen“ schließt? Gemeint ist Karl Schlögels Ansprache nach seiner Ehrung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025.

Im geschichtsträchtigen Rund der Frankfurter Paulskirche waren 700 Gäste versammelt, die Crème de la Crème der deutschen Kulturszene. Der Friedenspreis, mit dem seit 1950 anlässlich der Frankfurter Buchmesse Persönlichkeiten aller Herren Länder geehrt werden, ist ein Ritterschlag. Wessen Schulter das Schwert berührt, der tritt als Mitglied in den Orden der herrschenden Meinungen ein.

Damit ist der Frankfurter Friedenspreis auch ein Signalgeber für innerelitäre Stimmungen. Nicht ohne Grund waren die ersten beiden Preisträger, Max Tau (1950) und Albert Schweitzer (1951), Sendboten der Verständigung, der Versöhnung, des Dialogs und des Pazifismus. Die letzten Bombennächte lagen fünf Jahre zurück; das Zittern steckte in den Knien. Viele Menschen empfanden Worte wie Kriegs- und Wehrtüchtigkeit als verfemt; auf den Straßen demonstrierte die erste bundesdeutsche Friedensbewegung. Die Wiederbewaffnung stieß auf harten Widerstand, und es war die Kultur – Literaten, Intellektuelle, Künstler –, die der Rückkehr von Stahlhelm, Waffe und Uniform mit der größten Entschiedenheit entgegentrat.

Nur die ganz Alten erinnern sich an den Krieg

Das hat sich binnen 75 Jahren gründlich geändert. Deutschland ist wieder wer, sogar von militärischer Führung in Europa ist die Rede. Nur die ganz Alten erinnern sich an den Krieg. Der ist zu K4-Bildern geronnen, die wir im Wechsel mit Egoshooter-Spielen am Monitor konsumieren. Allenfalls hybrid tritt er in unser Leben, wenn nach Drohnensichtungen an deutschen Flughäfen diskutiert wird, ob es Putin oder der örtliche Hobbypilot war.

Indem der Krieg entrückt, schwindet die gefühlte Notwendigkeit, ihn zu verhindern. Parallel wächst das Bewusstsein neuer Bedrohung – zumal unter den gesellschaftlichen Eliten. Deren Errungenschaften sind in Gefahr: „unsere“ Demokratie, die europäischen Werte, Vielfalt und Diversität, die Fortschrittsgewissheit, der moralische Universalismus. Zugespitzt und auf den Punkt gebracht: Um solche Errungenschaften zu verteidigen, ist auch Krieg kein allzu hoher Preis.

Das ist die Folie für Karl Schlögels Dankesrede. Was der sprachbegabte Essayist vor dem Paulskirchenpublikum formuliert, ist nichts weniger als ein Hohelied auf den Krieg – auf den ukrainischen Verteidigungskrieg. Die Ukraine ist sein kleines gallisches Dorf, das sich dem übermächtigen Imperium heldenhaft (und erfolgreich) widersetzt. Daran ist nichts zu bekritteln; nur sehr missgünstige Menschen versagen dem ukrainischen Abwehrkampf ihre Anerkennung. Schlögel aber überdreht, seine Heroisierung der Ukraine entführt in die Sphären des Kitschs.

„An sie soll auch der Gruß von dieser Stelle ausgehen – aus der Frankfurter Paulskirche, dem Ort der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung (…). Es ist ein Gruß, hinüber zu den Verteidigern einer freien Ukraine, zu den Männern und Frauen, die trotz alledem ihrer Arbeit nachgehen, die ihre Kinder trotz Drohnenschwärmen zum Unterricht bringen, zu den Einwohnern Kyjiws, die in der Metrostation ausharren, zu den Lokführern, die ihre Züge pünktlich von Iwano-Frankiwsk nach Charkiw steuern.“ An anderer Stelle: „Sie sind in einer postheroisch gewordenen Welt Helden, ohne davon Aufhebens zu machen. (…) Sie helfen uns, sich auf die Zeit nach der Zeitenwende einzustellen. Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat. Soldaten, und erst recht Soldatinnen, werden geachtet, weil alle wissen dass sie ihre Pflicht tun und wozu sie bereit sind.“

Das ist Wochenschau-Jargon, Wochenschau-Stakkato. Auch wenn in deutschen Medien von ukrainischen Missständen selten die Rede ist – jeder weiß von den Deserteuren, vom Ausmaß der Korruption, von den verschwundenen Millionen, den autoritären Verhältnissen. Und die Ukrainer sind es auch nicht, denen wir Deutsche „unseren Frieden verdanken“. Die Ukrainer verteidigen ihr Land, tapfer und heldenhaft, aber sie verteidigen nicht den europäischen Frieden, nicht unsere Freiheit und erst recht nicht „unsere Demokratie“.

Schlögels pathetischer Überfrachtung des ukrainischen Verteidigungskriegs entspricht die Hybris, mit der er moralische Pflichten der Europäer konstruiert. Unter unseren Augen würden ukrainische Städte Tag für Tag, Nacht für Nacht von russischen Raketen beschossen – und „Europa scheint nicht in der Lage oder nicht willens, sie zu schützen“.

Müssen Europäer höheren Ansprüchen genügen?

Womit legitimiert er diesen maßlosen Anspruch? Tag für Tag, Nacht für Nacht werden im Sudan und an anderen afrikanischen Kriegsschauplätzen Menschen abgeschlachtet – hat Karl Schlögel jemals geklagt, Afrika scheine nicht in der Lage oder nicht willens, sie zu schützen? Ist es, weil die dortigen Täter und Opfer „nur“ Afrikaner sind? Müssen Europäer höheren Ansprüchen genügen?

Dabei kennt Schlögel sich aus wie nur wenige. Völlig zu Recht bemerkt er: „Sehr früh lernte ich, dass es jenseits der Teilung Europas in Ost und West, in Sozialismus und Kapitalismus, ein anderes, ein Drittes gab, das damit nicht identisch war, die verlorene Mitte Europas.“ Um diese Mitte Europas, die weder Ost noch West ist, geht es auch im Ukrainekrieg. Um Macht und Einfluss zwischen Ost und West.

Für Wladimir Putin ist alles ganz einfach. Für Karl Schlögel auch. Beide haben ihr Narrativ, beide lassen dasjenige des Gegners nicht gelten, und beider Ansprüche sind unvereinbar. Die „Osterweiterung des Westens“ ist an ihre Grenzen gestoßen, nicht mehr und nicht weniger. Die alte Ordnung der 1990-er, die Spielregeln, sie gelten nicht mehr. Also herrscht Krieg.

Abschied nehmen von einer Welt

Schlögels Gedanken und Argumente, stellvertretend für ein breites Spektrum der transatlantisch-westdeutschen Öffentlichkeit von konservativ bis linksliberal, hallen aus dem immer ferneren 20. Jahrhundert hinüber. Dabei erkennt er selbst: „Es heißt soviel wie Abschied zu nehmen von einer Welt, die sich aufzulösen begonnen hat.“ Abschied nehmen, das ist die Botschaft an eine Generation, die sowohl die alte als auch die neue Bundesrepublik entscheidend geprägt hat. An Karl Schlögels Generation.

„Dahin ist die Gewissheit, sich verlassen zu können auf Amerika“, ist eine weitere, legitime Erkenntnis. So ist es, und da bringt es wenig, vor der versammelten Kulturelite zwei Dämonen in den rhetorischen Raum zu projizieren: Wladimir Putin und Donald Trump. Wird die deutsche Politik wirkmächtiger, wenn sie sich den beiden gegenüber als haushoch überlegen aufplustert?

Da kann der Friedenspreisträger Putins Russland noch so wortreich als „Gestalt des Bösen“ dämonisieren, als Hort der Barbarei und aller vorstellbaren und unvorstellbaren Grausamkeiten. Er kommt ihm nicht bei. Und das nicht, weil Russland keine dämonischen Seiten hätte. Sondern weil dem lendenlahmen Europa, dem alten Kontinent im Ausgang seiner Epoche, weder die Kraft noch der Wille bleibt, seinen Wertekanon – und mag er noch so fortschrittlich glänzen – in die Welt hinauszutragen.

Autokratien können erfolgreich sein

Was bleibt, ist die Kraft, vor den Kulturschaffenden im geschützten Raum der Paulskirche Feindbilder zu malen. Etwa von Putins „Krieg um die Köpfe“ der Deutschen, „mit Stimmungen, mit Ängsten, mit Ressentiments“. Auch so eine Paranoia: als ob es ohne Putin keine Unzufriedenen gäbe, keine AfD. Braucht es zur Unzufriedenheit einen Putin, wenn deutschen Professoren nach Postings in sozialen Netzwerken eine frühmorgendliche Hausdurchsuchung droht?

Letztlich ist der 77-jährige Schlögel ein ebensolcher Nostalgiker wie der 73-jährige Putin. Der eine träumt von der russisch-imperialen Ordnung, der andere von der liberal-universalen. Doch beide Ordnungen sind hin, vom Winde verweht. Autokratien können inzwischen erfolgreich sein, und die Demokratien verlieren an Stärke und Macht. Statt mit Pathos vom Siegen zu reden, sollten wir uns nüchtern bemühen, künftige Kriege zu vermeiden.